Alaska
auf. Dann, als wolle er sein ganzes Leben in Worte zusammenfassen, fing er zu reden an: »Junge Frau, hast du die russischen Christen nicht erlebt? Haben sie irgendetwas für unser Volk getan? Hat es uns die Glückseligkeit eingebracht, die sie uns versprochen haben? Ein warmes Haus? Nahrung? Lieben sie uns, wie es in ihrem Buch geschrieben steht? Bringen sie uns Achtung entgegen? Dürfen wir uns an ihren Orten aufhalten? Haben Sie uns die Freiheit gebracht oder uns die gelassen, die wir uns selbst geschaffen hatten? Gibt es irgendetwas ... irgendetwas Winzigkleines ... irgendetwas Gutes, das ihr Gott uns angetan hat? Und gibt es nicht viel Gutes, das wir schon hatten, das sie dann von uns nahmen?«
Aus dem Sack war ein Stöhnen zu vernehmen, als bestätigte die Mumie diese lange Abrechnung mit der christlichen Herrschaft der Russen, und angefeuert durch diese Zustimmung, fuhr der Schamane fort, wobei er seine ungepflegten Locken immer dann schüttelte, wenn er wieder ein neues Argument anbrachte. »Waren wir in den alten Zeiten, mit unseren Geistern, nicht glücklich? Haben sie nicht genügend Meerestiere an unserer Insel vorbeischwimmen lassen, haben sie nicht ausreichend für Nahrung gesorgt, uns beschützt, wenn wir mit unseren Kajaks unterwegs waren, unsere Kinder heil auf die Welt kommen lassen, in jedem Frühjahr die Sonne zurückgebracht, Eintracht in unserem Leben gesät und für eine gute Dorfgemeinschaft gesorgt, wo Kinder in der Sonne spielen und alte Menschen in Frieden sterben konnten?«
Dieses Traumbild eines untergegangenen Paradieses auf den Aleuten wühlte ihn so heftig auf, dass seine Stimme in ein wehleidiges Jammern umschlug: »Cidaq! Cidaq! Du hast große Leiden erdulden müssen. Die Geister haben dich für eine edle Berufung vorgesehen. Verschwende in diesen schweren Zeiten auch nicht einen Gedanken daran, dir die gemeinen Anschauungen der anderen zu eigen zu machen. Cidaq, bleibe bei deinem Volk! Hilf ihm, seine Würde wiederzuerlangen. Hilf ihm, in dieser Zeit der Verführung seinen Weg ehrlich zu gehen. Hilf mir, unserem Volk zu helfen!«
Er zitterte am ganzen Leib, als er endete, denn die Geister, jene Kräfte, die die Winde beseelten und die Sonne antrieben, hatten ihm einen Blick in die Zukunft gewährt, und er sah den schnellen und quälenden Untergang seines Volkes, wenn sie die alten Sitten und Gebräuche auf gaben.
Ein Universum, ein ganzes Universum, das seine Erhabenheiten hatte - zwei Menschen allein auf dem unendlichen Meer, geschützt einzig durch einen Kajak, dessen Haut selbst ein Fisch durchstechen konnte, zwei Menschen gegen Leviathan, ihn zu jagen und zu töten. Dieses Universum und alles, was es umschloss , war in Gefahr, ausgelöscht zu werden, und er fühlte, dass er allein für seine Rettung verantwortlich war. »Cidaq«, flüsterte er, sein Bitten und seine Qualen erstickten ihm fast die Stimme, »Cidaq, verspotte die alten erprobten Sitten nicht, die dich gegen die neuen schlechten abschirmen, die ein besseres Leben versprechen, aber doch nur den Tod bringen.«
Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Cidaq saß wie in Trance, als er aus seinen Bündeln die geheiligten Symbole hervorholte, die ihr Leben bislang bestimmt hatten: die Knochen, die Holzstücke, die blankgeriebenen Steine, das dem Meer so schmerzlich abgetrotzte Elfenbein. Er breitete sie vor ihr aus, in der gewohnten Anordnung, stimmte einen monotonen Gesang an, Worte und Wendungen dabei benutzend, die sie nicht verstand, aber die so zwingend waren, dass in den Raum die Geister traten, die das Leben lenkten, und sie sprachen zu ihr wie in den Tagen der Kindheit: »Cidaq, verlass uns nicht! Cidaq, die anderen versprechen unserem Volk ein gutes Leben, aber sie halten ihr Versprechen nicht. Cidaq, halte fest an den Sitten, die deiner Urgroßmutter ein so langes und tapferes Leben bescherten. Cidaq, binde dich nicht an fremde neue Götter, die nur groß tun und nicht groß sind. Cidaq! Cidaq!« Ihr Name schallte aus allen Ecken der Hütte zurück, bis sie fast die Besinnung verlor, doch dann hörte sie von der Mumie tröstende Worte: »Eins nach dem anderen, Cidaq. Gib Rudenko dein Lachen. Gib ihm Anlass zur Hoffnung. Dann schicke ihn in die Verbannung zu den Robben. Danach müssen wir uns den Dingen zuwenden, die unseren Schamanen beunruhigen, denn sie beunruhigen auch mich.«
Die Mumie hatte vorausgesagt, dass drei Männer mit beunruhigenden oder hoffnungsvollen Botschaften nach Kodiak kommen
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