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Alaska

Titel: Alaska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Albert Michener
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sie aber nicht taten. Sie erfanden weder den Iglu aus Eis noch die Jurte, ein Zelt aus Fellen, noch die oberirdischen Hütten aus Baumstämmen und Steinen, noch sonst eine der vielen anderen bequemeren Behausungen. Statt dessen blieben sie bei ihrem schon aus Asien bekannten Bau, einer Art Höhle, die unter der Erdoberfläche lag, darüber eine Kuppel aus zu Matten geflochtenen Zweigen und Fellen, die mit Lehm verklebt waren. Auch dieser Aushub hatte keinen Schornstein, den Rauch abzuführen, kein Fenster, durch das Licht einfallen konnte, keine verschließbare Tür, kleinere Tiere fernzuhalten. Aber jede Höhle bot ein Zuhause, einen Raum, in dem die Frauen kochten und nähten und ihre Kinder aufzogen.
    Die Lebenserwartung in jenen Zeiten betrug etwa einunddreißig Jahre, aber durch das viele Kauen von Fleisch und Knorpel verfielen die Zähne schneller als der übrige Körper, so dass der Tod manchmal noch früher eintrat, weil die Menschen regelrecht verhungerten. Es kam oft vor, dass Frauen von den insgesamt sechs Kindern, die sie in ihrem Leben zur Welt brachten, drei bei oder kurz nach der Geburt verloren und nur die drei anderen am Leben blieben. Eine Familie hielt sich selten längere Zeit an einem Ort auf, denn Tiere wurden argwöhnisch, oder ihr Bestand verringerte sich so sehr, dass die Menschen weiterziehen mussten , um neue Beute zu suchen. Das Leben war hart und wenig abwechslungsreich, aber es gab keine Kriege, weder zwischen einzelnen Stämmen noch zwischen Stammesgruppen, hauptsächlich weil sie sehr weit auseinander lebten.
    Ihre Vorfahren hatten sich in Jahrtausenden Regeln für das Überleben im Norden erarbeitet, und diese Regeln wurden aufs strengste befolgt. Die Altehrwürdige betete sie ihrer Sippe unaufhörlich vor: »Fleisch, das eine grüne Färbung angenommen hat, darf nicht gegessen werden. Wenn der Winter einsetzt und es gibt nicht genug zu essen, müsst ihr die meiste Zeit des Tages schlafen. Werft niemals ein Stück Fell weg, egal, wie schmierig es ist. Mammut, Bison, Biber, Rentier, Fuchs, Hase und Maus, in der Reihenfolge sollt ihr sie jagen, aber missachtet die Maus nicht, denn in Hungerszeiten ist sie es, die euch am Leben erhält.«
    Ebenfalls aus Erfahrung, grausamer Erfahrung, befolgten sie ein anderes grundlegendes Prinzip: »Wenn du einen Lebensgefährten suchst, wende dich immer, ohne Ausnahme, an einen weit entfernten Stamm. Wählst du einen aus deiner eigenen Siedlung, wird das Schreckliches zur Folge haben.« Aus Gehorsamspflicht gegenüber dieser strengen Regel hatte die Altehrwürdige einst selbst die Tötung einer Schwester und eines Bruders beaufsichtigen müssen, die geheiratet hatten. Sie gönnte ihnen keine Gnade, obwohl es die Kinder ihres eigenen Bruders gewesen waren. »Es muss geschehen«, forderte sie weinend von den Mitgliedern ihrer Familie, »bevor auch nur ein Kind geboren wird. Wenn wir solche in unserer Mitte zulassen, werden sie uns strafen.«
    Sie ließ sich nie darüber aus, wer mit »sie« gemeint war, aber sie war davon überzeugt, dass sie existierten und sehr viel Macht und Einfluss hatten. Sie legten den Lauf der Jahreszeiten fest, sie führten das Mammut zu den Menschen, sie beschützten Schwangere, und dafür verdienten sie Respekt. Sie lebten, wie sie glaubte, jenseits des Horizonts, wo immer der auch gerade verlief, und manches Mal, in Zeiten der Not, schaute sie auf den Rand des Himmels in der Ferne und verbeugte sich vor den Ungesehenen, die allein die Macht hatten, die Dinge zum Besseren zu wenden.
    Es gab bestimmte Momente im Leben der Chukchis, die von einer geradezu übersinnlichen Freude geprägt waren, wenn zum Beispiel die Männer ein ungewöhnlich großes Mammut erlegt hatten oder wenn eine Frau nach einer schwierig verlaufenen Schwangerschaft am Ende einem starken, gesunden Knaben das Leben schenkte. An Winterabenden, wenn das Essen knapp war und an Behaglichkeit nicht zu denken war, widerfuhr ihnen manchmal besonderes Glück, denn dann breiteten »sie«, die Geheimnisvollen, große Feuervorhänge am nördlichen Himmel aus, die das Firmament mit einer Unzahl verschiedenfarbiger tanzender Figuren erfüllten, und riesige Lichtspeere, die von einem Horizont zum anderen flogen, ließen eine verwirrend schöne Welt von Macht und Erhabenheit ahnen.
    In solchen Augenblicken verließen sie ihre Erdhöhlen, in denen es so kalt war, dass der matschige Boden gefror, standen in der sternenklaren Nacht, ihre Blicke zum Himmel gerichtet, wo die

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