Alaska
Geheimnisse vielleicht entreißen zu können.
Aber immer wenn er die Beobachtung der Tiere abgeschlossen hatte und ihre Weisheit in seine Kenntnis der Menschen mit einbezog, verblieb trotzdem noch eine Welt , in die weder er noch die Tiere eindringen konnten. Was zum Beispiel lenkte die tosenden Winde aus Asien hierher? Warum war es im Norden immer kälter als im Süden? Wodurch wuchsen die Gletscher nach, wenn man doch sehen konnte, dass fast täglich einer verging, wenn seine Zunge auf trockenen Boden oder das Meer stieß? Wie kam es, dass die Blüten im Frühling gelb und im Herbst rot waren? Und warum wurden Babys geboren, fast immer genau dann, wenn alte Menschen starben?
Sieben Jahre lang, die ersten seiner langen Führerschaft, wälzte er diese Probleme, und während dieser Zeit stellte er bestimmte Regeln auf. Die glänzenden Kieselsteine, die er gesammelt hatte, die Stücke, die schon seine Mutter wie einen Schatz gehütet hatte, die Äste und Knochen, denen die Kraft zugeschrieben wurde, aus ihnen Vorhersagen ablesen zu können, sie waren die wesentlichen Hilfsmittel, wenn er die Geister anrufen und mit ihnen in Verbindung treten wollte. Er lernte viel aus der Zwiesprache mit ihnen, aber im Hinterkopf blieb immer die Vision der goldenen Elfenbeinscheibe, die wie ein Tier oder auch ein Mensch geformt war, ein lachender Mensch vielleicht, auch wenn er kein Gesicht hatte. Und er fing an, seine Welt als einen amüsanten Ort zu begreifen, in dem komische, zum Lachen komische Dinge passierten und wo ein Mann oder eine Frau alle Gesetze befolgen und allen Gefahren aus dem Weg gehen und doch in eine merkwürdige Situation geraten konnten, über die ihre Nachbarn und sogar die Geister selbst nur einfach lachen konnten, und zwar nicht heimlich und verstohlen, sondern aus vollem Halse. Die Welt war tragisch, und der Tod traf willkürlich auch gute Menschen und starke Tiere, aber sie war wiederum auch so verdreht, dass sich manchmal selbst die Bergkämme scheinbar vor Lachen bogen.
Im neunten Jahr seiner Herrschaft als Schamane verstummte das Lachen. Eine Krankheit, über das Meer eingeschleppt, verbreitete sich im Dorf, und nachdem man die Dahingerafften bestattet hatte, fielen die Athapasken aus dem Osten ein. Dann wanderten die Mammuts aus dem Gebiet ab, ihnen folgten die Bisons, der Hunger kehrte ins Dorf ein. Eines Tages, als sich scheinbar die ganze Erde gegen die Sippe verschworen hatte, rief Azazruk die Dorfältesten zusammen, die Hälfte von ihnen war älter als er, und verkündete mit schonungsloser Offenheit: »Die Geister haben uns Zeichen der Warnung geschickt. Es ist Zeit, dass wir fortziehen.«
»Wohin?« fragte der Anführer der Jäger, und noch ehe Azazruk einen Vorschlag machen konnte, begann eine lebhafte Diskussion.
»Wir können nicht in die Heimat des Großen Sterns ziehen, dort sind die Menschen, die dem Wal nachjagen.«
»Und wir können auch nicht dahin, wo die Sonne aufgeht. Dort sind die Menschen, die in den Wäldern leben.«
»Das Land der zerklüfteten Buchten wäre geeignet, aber die Menschen dort sind bösartig. Sie werden uns verjagen.«
So wurden alle Möglichkeiten, die sich ihnen boten, fallengelassen. Es schien, als sei diese verzweifelte Gruppe, obwohl so unbedeutend, dass sie keinerlei Bedrohung für ihre Nachbarn darstellte, nirgendwo willkommen. Da erhob sich schüchtern ein Mann, der nichts von einem Anführer an sich hatte, und schlug vor: »Wir könnten dahin zurück, woher wir gekommen sind«, und in der Stille, die folgte, dachten die Männer über diesen Rückzug nach, an das Land jedoch, das ihre Vorfahren zweitausend Jahre vorher verlassen hatten, konnten sie sich nicht mehr erinnern. Im Stammesgedächtnis verhaftet war die Erinnerung an eine große Abwanderung aus dem Westen, die für ihr Volk von entscheidender Bedeutung gewesen war, aber nicht einer wusste noch, wie die alte Heimat ausgesehen hatte oder welche schwerwiegenden Gründe die Alten bewogen hatten, sie zu verlassen. »Wir sind von da drüben gekommen«, sagte eine alte Frau, mit der Hand vage in die Richtung weisend, in der Asien lag, »aber wer weiß?«
Niemand wusste es, und die Zusammenkunft kam zu keinem Ergebnis. Ein paar Tage darauf sah Azazruk, wie ein Mädchen ihrer Freundin die Haare mit einer Muschelschale stutzte, und er fragte sie: »Wo hast du die Muschel gefunden?«, und das Mädchen antwortete ihm, man erzähle sich in ihrer Familie die Geschichte, fremdartig aussehende Männer,
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