Alaska
wollte, er hätte also bei Versammlungen die Führung übernehmen können, aber er zog es vor, leise zu sprechen, so dass sich seine Stimme manchmal wie die einer Frau anhörte. Und doch, er war ein guter Mensch, und das wussten sein Vater und ein Großteil der Gemeinschaft zu schätzen. Die Frage lautete nur: Wie würde sich sein guter Charakter bewähren, wenn eine Krise es erforderlich machte, zu handeln?
Sein Vater, ein weiser Mensch, hatte die Erfahrung gemacht, dass auch von denen, die ein ganz normales Leben führten, nur sehr wenigen die Momente, in denen sie auf die Probe gestellt wurden, erspart blieben. Geborene Anführer, wie er selbst, erlebten diese Momente ständig und mussten sich auch bei der Verfolgung von Tieren, beim Bau von Hütten oder bei der entscheidenden Frage, wohin sie ihre Sippe führen sollten, dem Urteil ihrer Mitglieder stellen. Das war die Last der Führerschaft, aber rechtfertigte auch ihre Privilegien.
Es war ein Tag gegen Ende des Frühlings, als der Vater im Sterben lag, und durch einen unglücklichen Zufall wurde am selben Tag die Sippe von Athapasken aus den Regionen im Norden angegriffen. Sein Sohn war bei dem Sterbenden und nicht bei den Kämpfenden, die vergeblich versuchten, ihren Besitz zu verteidigen, und als der Tod nahte, flüsterte der Alte: »Azazruk, führ unser Volk in eine sichere Heimat«, und noch bevor der Junge antworten oder dem Sterbenden wenigstens andeuten konnte, dass er seinen Befehl vernommen hatte, raubte der Tod ihm den Vater.
Es war keine schwere Schlacht an jenem Tag, nur eines der vielen kleinen Scharmützel, mit denen die Athapasken Druck auf die Eskimos ausübten, aber da dieses zufällig mit dem Tod ihres alten Anführers zusammenfiel, brachten diese Ereignisse die Sippe aus der Fassung, und die Männer saßen völlig verwirrt vor ihren Hütten und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Niemand, vor allem von denen, die an dem Kampf teilgenommen hatten, sah zu Azazruk als Anführer auf, erwartete nicht mal einen Vorschlag von ihm. Man ließ ihn allein. Berührt von dem Geheimnis des Todes, über die letzten Worte seines Vaters sinnierend, wanderte er davon, bis er an einen Fluss kam, der von dem Gletscher hinabströmte, Richtung Osten.
Er versuchte, Ordnung in die Gedanken zu bringen, die durch seinen Kopf wirbelten, und sah dabei zufällig hinunter in den Fluss , der fast ganz weiß war, weil er unzählige winzige, von den Felsen an der vorderen Seite des Gletschers abgesplitterte Steinchen mit sich führte, und für einige Augenblicke stand er bewundernd vor diesem Weiß und fragte sich, ob es nicht eine Art Omen darstelle. Noch während er darüber nachdachte, sah er einen merkwürdigen Gegenstand von goldener Farbe und glänzend aus dem schwarzen Schlamm des Flussbettes herausragen, und als er anhielt, ihn dem Schlamm zu entreißen, hielt er ein kleines, zwei Finger breites Stück Elfenbein in den Händen. Wahrscheinlich war es von dem Stoßzahn eines Mammuts abgebrochen oder stammte von einer Walro ss jagd , die schon Jahrhunderte zurücklag, und war mit dem Fluss landeinwärts geschwemmt worden. Aber das Außergewöhnliche daran, und das fiel Azazruk gleich auf, war, dass es entweder durch Zufall oder die Hand eines längst verstorbenen Künstlers eine Art Lebewesen darstellte, möglicherweise einen Mann, es konnte aber auch ein Tier sein. Es hatte keinen Kopf, aber ein Torso war zu erkennen und eine Stelle, an der Beine ansetzten, sowie eine deutlich eingeritzte Hand oder Klaue.
Den Gegenstand in dem faden Licht hin und her wendend, war Azazruk überrascht von seiner Lebendigkeit: Er war aus Elfenbein, dessen war er sich sicher, aber es steckte auch Leben in ihm, und sein Besitz erzeugte in ihm ein Gefühl der Ehrfurcht, der Herausforderung und der Gewissheit , dass damit ein Zweck verbunden war. Er wollte nicht glauben, dass der Fund dieser lebendigen, kleinen Kreatur genau an dem Todestag seines Vaters, als die Sippe in Auflösung begriffen war, kein Zufall sein sollte. Er begriff, dass die Person, die die großen Geister zu diesem Omen geführt hatten, für eine bedeutende Aufgabe vorgesehen war, und in diesem Augenblick der Erkenntnis beschloss er, den Fund vor den anderen zu verheimlichen. Das Bild war klein genug, um es irgendwo in einer Naht oder Falte seiner Kleidung aus Hirschleder verschwinden zu lassen, und dort sollte es so lange versteckt bleiben, bis die Geister, die es geschickt hatten, ihre Absichten deutlich gemacht
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