Alaska
Konflikt kommt, wie lässt er sich entschärfen? Als Verfechter dieser Strategie war er daher alles andere als froh, als Kendra von ihren Sorgen mit der neuen Schülerin berichtete, denn er hatte allen Grund zur Annahme, Amy Ekseavik stünde unter der besonderen Obhut von Vladimir Afanasi und sei daher ein Kind, mit dem besonders vorsichtig umgegangen werden müsse.
»Wollen Sie damit sagen, sie sei uneinsichtig?« Kendra war immer wieder erstaunt über Mr. Hookers Wortwahl. Er hatte zwar in Greenley, Colorado, Pädagogik studiert, eine der besten Schulen für dieses Fach, war aber ansonsten eher von bescheidenen intellektuellen Fähigkeiten, doch auch wiederum jemand, in dem ungeahnte Möglichkeiten steckten.
»Amy ist wie ein wildes Tier, Kasm. Manchmal frage ich mich, ob sie zu Hause misshandelt wurde.«
»Völlig ausgeschlossen. Afanasi mag ihre Eltern nicht besonders, aber er meint, sie seien nicht brutal. Eskimos würden ihre Kinder nie misshandeln .«
»Dann ist es also nur eine Folge davon, dass sie allein groß geworden ist?«
»Möglich. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie die Jüngste unter Ihren Schülern ist. Vielleicht wäre sie rundherum zufriedener, wenn man sie zurückstufte in die Grundschule. Bei mir sind schon viele solcher Kinder aufgetaut.«
Automatisch und mit einem Nachdruck, den sie auf ihre Worte nicht gelegt hätte, wenn sie darüber nachgedacht hätte, dass man sie auch anders auslegen konnte, rief Kendra: »O nein! Sie ist schon ganz gut aufgehoben bei uns. Ihre Mitschüler werden ihr schon unter die Arme greifen, und ich tue ja auch schon alles, damit sie sich wohl bei uns fühlt ...« Plötzlich wurde ihr klar, dass sie da möglicherweise einen wunden Punkt berührt hatte, und schnell wich sie zurück und sagte: »... und helfe ihr beim Lernen«, worauf Direktor Hooker schmunzelte, mit einem Verständnis, das Kendra überraschte: »Sie dürfen sich nicht zu sehr mit ihr identifizieren, Miss Scott.«
»Bitte sagen Sie Kendra zu mir - wenn ich weiterhin Kasm zu Ihnen sagen darf.«
»Einverstanden. Sie wollen sie also behalten? Macht sie denn überhaupt irgendwelche Fortschritte?«
»Sie ist sehr intelligent, Kasm. Sie hat enorme Fähigkeiten und ist bereit zu lernen.«
»Dann sollten Sie sie in Ihrer Klasse behalten. Loben Sie die Kleine, wenn sie etwas richtig gemacht hat, und schrecken Sie nicht davor zurück, Sie auch einmal zu tadeln, wenn sie sich dumm anstellt.«
Amy also blieb in Kendras Klasse, und während der folgenden unvergesslichen Herbsttage, als die Sonne am Himmel von Tag zu Tag tiefer sank, als wollte sie die Menschen in Desolation warnen: »Bald bin ich nicht mehr zu sehen, bald bricht die Nacht über euch herein«, unternahm Kendra alles Mögliche , um das zurückhaltende Wesen dieses ungebändigten Kindes, das ihr Leben so verändert hatte, zu gewinnen, und Hilfe bei dieser schwierigen Aufgabe zog sie aus dem Titelfoto, das sie zu Hause über ihrem Schreibtisch an die Wand geheftet hatte und das eine ganz andere Amy zeigte. Die tapfere Entschlossenheit, mit der dieses in Pelze gehüllte Kind auf dem Bild in den Schneesturm zog, tröstete sie: Ein Kind, das so erzogen ist, muss im Alter von vierzehn einfach hart sein. Aus meiner Amy ist genau das geworden, was nicht anders zu erwarten war, und meine Aufgabe besteht darin, ihr zu zeigen, wieviel besser ihr Leben sein könnte, wenn sie erst mal zwanzig wäre.
Schon seit September sprachen die Einwohner von Desolation immer wieder geheimnisvoll von »der Ankunft des Winters«, und Kendra hatte stets geglaubt, sie umschrieben damit lediglich die Unannehmlichkeiten, die die ewige Polarnacht für die Menschen brachte, aber dann, eines Tages Anfang November, erfuhr sie mit voller Deutlichkeit, was sich eigentlich hinter diesen Andeutungen verbarg. Es war kalt geworden, die Außentemperatur auf minus 20 Grad gesunken, eine dünne Schneedecke lag auf der Erde, und Kendra hatte angefangen, ihre Eskimokleidung zu tragen, die warm und bequem war. Als sie an diesem Morgen jedoch von dem Lehrerwohnheim rüber zur Schule eilte, schlug ihr ein Wind von solcher Gewalt entgegen, dass sie nur schwer atmen konnte und ihr Gesicht schmerzte. Die Schüler, eingehüllt in ihre Schutzkleidung, fragten sie: »Na, wie gefällt Ihnen unser Winter?«
Das Thermometer sank weiter auf minus 40 Grad, aber die stürmischen Winde, die aus den Weiten Sibiriens über die Chukchisee wehten und in das Land einfielen, waren so mächtig,
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