Alaska
durch Zufall nach Desolation geschickt worden war, sondern um eine große Idee zu verwirklichen. Er war jung, mittelgroß, hatte ein gepflegtes Äußeres und ein einnehmendes Lächeln. Er blickte nicht in ihre Richtung, aber sein blonder Hinterkopf war so auffällig zwischen den Eskimos, mit denen er herumstand, dass sie nicht umhinkonnte, ihn anzusehen, und während einer Pause des Unterhaltungsprogramms, das ihre Schüler auf die Beine gestellt hatten, schlenderte sie wie zufällig zu Afanasi hinüber, und als dieser sie auf sich zukommen sah, wandte er sich von seinen Zuhörern ab, ging einen Schritt auf sie zu, als hätte er ihre Absicht erraten, nahm sie bei der Hand und führte sie zu dem Fremden. »Miss Scott, darf ich Ihnen meinen Rechtsberater Jeb Keeler vorstellen?«
»Herzlich willkommen zu unserem Schulfest, Mr. Keeler. Rechtsberater...?«
»Mr. Keeler hat in Dartmouth und Yale studiert«, erklärte Afanasi, »und seine Dienste für unsere Gemeinde sind von unschätzbarem Wert.«
»Haben Sie hier regelmäßig zu tun?« fragte sie, und die Gelegenheit ergreifend, erläuterte Afanasi die besondere Beziehung, die den jungen Mr. Keeler mit dem Dorf und seinen Bewohnern verband. Kendra war beeindruckt und fragte: »Besitzen Sie ein Haus hier?« Aber Jeb antwortete: »Ich wohne bei Mr. Afanasi. Bei meiner Arbeit habe ich meistens mit ihm zu tun, und so ist es ganz bequem.«
Sie blieb noch ein paar Minuten bei den Männern stehen, länger als eigentlich notwendig, wurde sich dann ihrer Aufdringlichkeit bewusst und entschuldigte sich verlegen, ein stilles Eingeständnis des vorteilhaften Eindrucks, den der junge Rechtsanwalt auf sie gemacht hatte. Aber auch auf ihn hatte sie einen starken Eindruck gemacht. »Ich habe alle Schönheiten vom Wellesey-und-Smith-College zum Abschied geküsst «, hatte er einst zu seinem Mentor Poley Markham gesagt, und das war keine Prahlerei gewesen, aber weder in Juneau noch in Anchorage, wo er durch seine Arbeit als Anwalt laufend neue Leute kennenlernte, war er einer Frau begegnet, die ihn wirklich interessierte, und ausgerechnet hier in Desolation eine junge Frau zu finden, die attraktiv war und eine tüchtige Person zu sein schien, überraschte ihn.
Als sich das Fest dem Ende näherte, rückte er vorsichtig näher an die Stelle, wo Kendra stand und den Frauen des Dorfes eine gute Nacht wünschte, und als auch der letzte Gast gegangen war, fragte er: »Wollen Sie morgen zum Frühstück kommen? Ich meine natürlich zu Vladimir, wir können ausgezeichnet kochen.«
»Die Einladung nehme ich gerne an«, sagte sie mit einem entwaffnenden Lächeln. »Aber Sie wissen ja, Mr. Afanasi ist mein Chef, und um acht Uhr muss ich in der Schule sein.«
»Ich hole Sie also um sechs Uhr ab.«
»Warum so früh?«
»Ich habe ’ne Menge Fragen, die ich Ihnen gerne stellen würde.«
Sie war am nächsten Morgen schon vor fünf Uhr aufgestanden und wartete ungeduldig, als es um Viertel vor sechs an ihrer Tür klopfte und Jeb Keeler auf der Veranda stand, um sie zum Frühstück bei Afanasi abzuholen. Während sie durch die Finsternis stapften, Kendra bei ihm eingehakt, spürte sie, dass er genauso gespannt auf ihr gemeinsames Gespräch war wie sie, ein Gedanke, der ihr gefiel. Es war das erste Mal , dass sie sich mit einem gleichaltrigen Mann traf, eine von beiden Seiten eingefädelte Begegnung, verbunden mit der entsprechenden Aufregung, und sie war irgendwie dankbar, dass sie nicht in ihrer alten Umgebung stattfand, sondern hoch im Norden, weit jenseits des Polarkreises.
Nach dem Frühstück war Afanasi so rücksichtsvoll, schnell eine Besprechung über Gemeindeangelegenheiten einzuberufen und das Haus seinen beiden Gästen zu überlassen.
»Sind Sie wegen rechtlicher Angelegenheiten hier?« fragte Kendra, was Jeb zum Anlass nahm, ihr über seine Beziehung zu Poley Markham zu erzählen und ihre gemeinsame Tätigkeit als Rechtsanwälte der Genossenschaft von Desolation. Dann kam er auf die komplizierten Landverteilungsgesetze zu sprechen, ein Gebiet, auf dem er sich zu so etwas wie einem Experten gemausert hatte, so dass sie Afanasi, als er zurückkehrte, fragen konnte: »Was meinen Sie, was wird 1991 passieren, wenn den Eskimos das Recht auf ihr Land überschrieben wird?«
»Sie haben wohl heiß diskutiert, was?« Er goss sich eine Tasse Kaffee ein, setzte sich eine Stunde zu ihnen und sprach ganz offen mit ihnen über die schwierigen Probleme, die auf sein Volk zukamen. »Über die
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