Alaska
Aktivität und Bedeutung zu füllen. Sie selbst war das Klassenzimmer, nicht die Bücher oder die Hälfte des Gebäudes, die ihr zustand. Nur sie konnte den leblosen Ort mit Leben füllen, und sie war entschlossen, danach zu handeln.
Es war an vielen Eskimoschulen üblich, dass der Lehrer seine Schüler, wenn er alle meinte, mit »Ihr Leute« anredete, was eine gewisse Vertrautheit ausstrahlte, und von Anfang an benutzte auch Kendra diese Anrede häufig. Wenn sie ihrer Klasse ein Gefühl der Kameradschaft vermitteln wollte, sagte sie: »Hört zu, Leute, machen wir mit den Mathematikaufgaben weiter.« Und wenn sie meinte, es sei nötig, die Klasse zur Disziplin zu rufen, sagte sie: »Also, Leute, Schluss jetzt mit dem Unsinn«, und dann wussten sie, dass sie es ernst meinte, und es kehrte wieder Ruhe ein.
Sie mochte ihre Schüler auf Anhieb, und nach den ersten vorsichtigen Fragen und Antworten hatte sie herausgefunden, dass alle drei überdurchschnittlich begabt waren, aber bevor sie mit dem eigentlichen Unterricht anfangen konnte, gab es noch eine Unterbrechung, die den ersten Tag entscheidend bestimmen sollte, ja, sogar das ganze Schuljahr.
Vladimir Afanasi betrat das Klassenzimmer, an der Hand ein verängstigtes vierzehnjähriges Eskimomädchen, und ehe er dem bangen Kind einen Platz zuwies, ging er auf Kendra zu und zog sie nach draußen auf die Veranda. »Das ist Amy Ekseavik. Ihre Eltern sind die Außenseiter des Dorfes. Sechs Monate lang fischen sie flussaufwärts , und sie leben in einer ärmlichen Hütte am anderen Ende. Amy ist immer nur höchstens sieben bis acht Wochen im Jahr zur Schule gegangen.«
»Wie können Sie so etwas dulden?«
»Wir dulden es ja nicht. Ich habe ihnen die Polizei von Barrow auf den Hals geschickt. Sie muss zur Schule gehen, und jetzt haben ihre Eltern sie für den Winter hierhergebracht, sie wohnt bei Mrs. Pelowook.« Nachdem sie wieder zurück ins Klassenzimmer gegangen waren, trat er auf das Kind zu und sagte: »Das sind deine Klassenkameraden, Amy, und das hier ist deine Lehrerin, Miss Scott.«
Die jedoch hörte gar nicht, was er sagte, denn schon vom ersten Augenblick an, als Amy den Raum betreten hatte, packte Kendra ein überwältigendes Gefühl: Das war das kleine Mädchen von dem Titelbild der Zeitschrift! Die Ähnlichkeit zwischen jenem sechs- oder siebenjährigen Mädchen und diesem fast doppelt so alten, das jetzt vor ihr stand, war so unglaublich, dass Kendra vor Aufregung die linke Hand vor den Mund nahm und anfing, an den Fingernägeln zu kauen. Es war ein Wunder, anders konnte man es nicht bezeichnen, dass ein Doppelgänger des Kindes, dessen Foto sie an diesen verlassenen Ort gelockt hatte, jetzt ihr Klassenzimmer betrat. Gleichzeitig war es wie ein Befehl: Sie war berufen, diesem Kind zu dienen.
»Sie sollten nachprüfen, was sie gelernt hat«, sagte Afanasi, bereits im Gehen begriffen. »Sie kann ein bisschen lesen und schreiben, aber die paar Wochen, die sie letztes Jahr die Schule besucht hat, liegen schon lange zurück.« Damit war er aus der Tür. Kendra war zu überrascht, um sofort zu reagieren, und als Amy noch immer verängstigt mitten im Raum stehenblieb, stand das andere Mädchen der Klasse auf, ging auf sie zu und führte sie an ihren neuen Platz, nachdem einer der Jungen einen vierten Stuhl in ihren Kreis gestellt hatte. Mit dieser Geste hießen sie die Fremde, die irgendwo allein am Rand der Welt aufgewachsen war, in ihrer Mitte willkommen.
Die pausbäckige Amy Ekseavik entpuppte sich als harter, wenn auch kleiner Brocken. In den ersten beiden Wochen wehrte sie jeden Versuch ab, sie aus der Reserve zu locken, und mit ihrer ruppigen Eigenwilligkeit stieß sie Lehrer wie Mitschüler gleichermaßen ab. Als Einzelkind weitab vom Dorf aufgewachsen hatte sie nie Freundinnen gehabt, und freundlich zu anderen Menschen zu sein, ihnen gar zu vertrauen, schien ihr fremd. Sie hegte größtes Misstrauen gegenüber anderen Menschen, und da ihre Eltern immer sehr streng zu ihr gewesen waren, konnte sie sich nicht vorstellen, dass Miss Scott anders war, und so blieb die Atmosphäre im Klassenzimmer längere Zeit über recht gespannt.
Schließlich fragte Kendra ihren Schuldirektor um Rat, musste aber feststellen, dass Mr. Hooker, was Schulangelegenheiten betraf, ein übervorsichtiger, von diversen Auseinandersetzungen gezeichneter Mann war, der an jedes Problem mit der Frage heranging: Könnte mir das schaden? Und wenn es möglicherweise doch zu einem
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