Alaska
sie müsse die Schule abbrechen.«
»Warum? Sie ist doch eine hervorragende Schülerin, wie ich gehört habe.«
Kendra wusste , was sie jetzt sagen würde, könnte vielleicht abschätzig klingen, aber dass es wie eine Bombe einschlagen könnte, konnte sie nicht ahnen: »Sie sagte, ihr Vater trinke zu viel und sie müsse zurück und ihrer Mutter im Haushalt helfen.«
Sie konnte förmlich hören, wie Afanasi tief Luft holte: »Miss Scott, es gibt zwei Aspekte im Leben der Eskimos, die man gefälligst nicht zur Sprache bringen sollte, vor allem nicht als Fremder, der aus Amerika zu uns herüberkommt.« Sein Gesicht verfinsterte sich merklich, er zeigte mit dem Finger auf Kendra und sagte streng: »Erlauben Sie sich kein Urteil über unser Trinken. Und bringen Sie keine Geschichten in Umlauf über unsere Selbstmordrate. Das sind Probleme, die wir tief in unserer Seele versteckt halten und wo wir keine Belehrungen von anderen brauchen. Vor allem, was Sie betrifft, eine Fremde unter Fremden, würde ich Ihnen raten, den Mund zu halten.« Er zitterte vor Wut, eine Wut, die immer in ihm hochkam, wenn er weißen Männern und Frauen, die unter Eskimos lebten, diesen Vortrag halten musste . Er verließ den Platz neben Kendra und sprach für den Rest der Reise kein Wort mehr mit ihr, aber als sie in Desolation ankamen und der Vater eines Schülers am Flughafen erschien, um seinen Sohn abzuholen, der Mann aber so betrunken war, dass er seinen Jungen nicht einmal mehr erkannte, was wohl schon des Öfteren vorgekommen war, zeigte Afanasi auf ihn und sagte, zu Kendra gewandt: »Es ist wie ein Geschwür, das an unserer Seele frisst . Aber wir müssen alleine damit fertig werden. Sie können nichts tun, ob Sie uns nun verachten oder uns Hoffnung machen wollen. Also nehmen Sie sich meinen strengen Rat zu Herzen. Reden Sie nicht darüber.«
Verschlossener als sonst fing Kendra an, die Situation im Ort genauer unter die Lupe zu nehmen, und sie entdeckte, dass sich hinter der guten Laune während der Feste und Versammlungen in der Sporthalle und den ausgelassenen Unterhaltungsabenden, zu denen sie die Eltern ihrer Schüler einlud, unterschwellig eine Grundstimmung verbarg, die sich aus den beiden düsteren Strömen zusammensetzte, die das Leben der Eskimos vergiftet hatten: die Sucht nach Alkohol, bewusst verbreitet von Walfängern aus Boston wie Kapitän Schransky auf seiner »Erebus«, und ein allgemeiner Lebensüberdruss , für den Menschen verantwortlich zeichneten, die eigentlich mit den besten Absichten gekommen waren, Missionare wie Dr. Sheldon Jackson, Überbringer der Gesetze des weißen Mannes wie Kapitän Mike Healy auf seiner »Bear« und die Vertreter einer bestimmten Art von Bildung wie Kasm Hooker und Kendra Scott.
Eine so ungeheure Menge an Veränderungen - alle als der traditionellen Lebensweise der Eskimos überlegen dargestellt - ließ sich eben nicht innerhalb von ein paar Generationen verarbeiten, und so schälte sich dieses weitverbreitete Unbehagen heraus, eine Krankheit der Seele, die bei denen, die sich nicht in den Alkohol flüchteten, nur zu häufig im Selbstmord endete. In Unkenntnis der wirklichen Situation hatte Kendra die Trunksüchtigen unter den Männern in Desolation nie gezählt, und sie hatte auch nicht die Information, um die Selbstmorde der letzten fünf Jahre zu verfolgen, aber jetzt, da sie sich des zweifachen Fluchs der Eskimos bewusst war, stellte sie ein trauriges Dossier zusammen.
Ein Informant, eine ältere Frau, lieferte unbewusst den wahren Grund für Afanasis schroffe Reaktion: »Sein Großvater, Missionar, er ein Mann, von Gott geschickt, um uns zu helfen. Er viel Gutes gebracht. Oft versucht, Alkohol nicht ins Dorf kommen zu lassen. Aber weißer Mann Alkohol immer wieder gebracht. Viel Geld. Großvater von Afanasi versucht, den Verlorenen zu helfen. Immer gesagt: › Zu Gott bekennen. ‹ Aber nichts geändert. Und seine Söhne. Sie haben zwei verloren. Einer, Vladimirs Vater. Er immer betrunken. Hätte guter Jäger werden können, aber er jung gestorben. Sein Bruder Ivan, Onkel von Vladimir, er wurde immer stiller, hat nicht mehr gesprochen, nicht mehr fischen, nicht mehr jagen, einfach aufgehört. Dann sich erschossen.«
Die Frau unterbrach ihren Redeschwall, musterte die junge Lehrerin einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Eskimokrankheit überspringt Generation. Erster Afanasi guter Mann, aber beide Söhne sich zugrunde gerichtet. Unsere Afanasi in nächster Generation,
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