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Alaska

Titel: Alaska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Albert Michener
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meine es ernst. Du hast Talent, aber wenn du es nicht entwickelst, liegt es brach.«
    Auf diesen Appell folgte eine überhebliche Antwort, die damals während des Wirtschaftsbooms viele junge Eskimos hätten geben können: »Ich kann jederzeit in Prudhoe Bay Arbeit finden, wenn ich will. Und viermal so viel verdienen wie Sie als Lehrerin.«
    Kendra merkte, wie Wut in ihr hochstieg, denn von diesem Gerede hatte sie genug: »Wer redet hier von Geld? Ich rede von deiner Zukunft. Von deinem Leben. Wenn du dich nach Prudhoe absetzt, arbeitest du drei oder vier Jahre, wirfst dein Geld zum Fenster raus, und was dann? Was willst du mit dem Rest deines Lebens anfangen? Denk darüber nach, Jonathan.« Aufgewühlt erhob sie sich, stürmte durch den Mittelgang und setzte sich auf einen anderen Platz.
    Jonathan war ein junger Mensch mit Verstand, und später, als sie wieder zurück in West-Berlin waren und in einem Restaurant saßen, fragte er Kendra, ob der Stuhl neben ihr noch frei sei. »Ja, bitte«, sagte sie, und dann überraschte er sie mit dem Geständnis, dass er in Desolation in gewisser Hinsicht eine besondere Rolle spiele. »Mein Großvater, Sie kennen ihn nicht, Sie halten ja Mr. Afanasi für den starken Mann im Dorf, in der Genossenschaft, ja, in der Schulbehörde, auch, aber der wirklich starke Mann ist mein Großvater.« Und dann fuhr er fort und erzählte von den erstaunlichen Fähigkeiten, die sein Großvater besaß, und der Macht, die er über bestimmte Ereignisse hatte, die Geburt eines Kindes und den Walfang zum Beispiel. Am Ende ließ sie Messer und Gabel sinken, starrte ihn an und fragte: »Jonathan, willst du mir damit sagen, dass dein Großvater ein Schamane ist?« Sie hatte das Wort schon mehrere Male gehört, seitdem sie nach Alaska gekommen war, sie wusste also sehr wohl um die ungeheure Machtstellung, die Schamanen früher im Norden eingenommen hatten, aber nie hätte sie im Traum daran gedacht, dass es auch heute noch Schamanen unter der Bevölkerung gab. Desolation hatte einen presbyterianischen Priester, der elfte Nachfolger seit dem schicksalhaften Tag, als Captain Mike Healy von der »Bear« Sheldon Jackson an Land abgesetzt hatte, mit genug Holz, um eine presbyterianische Missionsstation zu bauen und sie mit einem bekehrten Dimitri Afanasi zu besetzen. Alle im Dorf waren Presbyterianer seit jeher, und es war ein merkwürdiger, wenn nicht erschreckender Gedanke, dass es neben der Kirche noch einen Schamanen aus der alten Zeit gab, der eine Art Religion im Untergrund ausübte, der die Mehrheit der Dorfbewohner heimlich anhing. Es war unzivilisiert, heidnisch, eigentlich ganz unmöglich - aber doch irgendwie aufregend.
    Als die Gruppe nach München zurückkehrte, stellte das Deutsche Reisebüro, zufrieden mit der wohlwollenden Presse, die die Eskimos überall begleitete, vier Schülern, den beiden Lehrern und den anderen Erwachsenen der Reisegesellschaft Eintrittskarten für eine Aufführung im historischen Münchner Opernhaus zur Verfügung. »Es tut mir leid, dass es keine leichte, beschwingte Musik ist«, erklärte die Dame, die die Gruppe begleiten sollte, »aber dafür wird die Oper einen nachhaltigen Eindruck auf Sie machen. Ich werde Ihnen die Handlung erklären. Es ist die › Walküre ‹ von Richard Wagner. Musik, die Sie nie vergessen werden.«
    Amy Ekseavik besorgte das Libretto und bereitete die Opernbesucher darauf vor, was sie erwartete, und mit Hilfe der Reiseleiterin waren die Gäste aus Desolation in der Lage, der komplizierten Handlung zu folgen. Kendra, die noch nie eine Oper besucht hatte, saß hinter ihren Schülern zwischen Jeb Keeler auf der linken und Afanasi auf der rechten Seite, während Jonathan Borodin in der Reihe vor ihr saß, aber zwei Sitze weiter, so dass sie sein Gesicht gut sehen konnte, und als die düstere Musik einsetzte und sich die nordischen Riten auf der Bühne vollzogen, war deutlich zu erkennen, dass beides einen tiefen Eindruck auf Borodin machte. Kein anderer folgte der geheimnisvollen Pracht der Wagnerszenerie mit der intensiven Aufmerksamkeit wie er, was Kendra veranlasste , Afanasi während der ersten Pause zu fragen: »Stimmt es, dass Jonathan Borodins Großvater ein heimlicher Schamane ist?«
    Ihre Frage hatte eine ungeheure Wirkung, denn der kluge, kultivierte Mann, Führer der kleinen Gemeinde von Desolation, fiel aus allen Wolken. Abrupt drehte er sich um, schaute Kendra an und fragte mit Nachdruck: »Wer hat Ihnen das erzählt?« Und sie

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