Alaska
einer trüben Lampe in ihrem Lehrbuch gelesen hatte, das Gewehr ihres Vaters genommen, nach draußen gegangen war und sich erschossen hatte, während ihre Mutter schlief.
Kendras erstes Jahr nördlich des Polarkreises verlief selbst nach den üblichen Maßstäben äußerst turbulent, manchmal erreichte sie Höhen, und sie beglückwünschte sich: Jetzt endlich verstehe ich das Land und seine Leute. Dann wieder folgten Ausbrüche, nach denen sie sich eingestehen musste : Ich habe nicht das geringste begriffen. Nichts öffnete ihr jedoch mehr die Augen als die Ankunft einer großen, entschlossen wirkenden Frau in Desolation, die mit ihrer Familie in einem Blockhaus wohnte, 300 Kilometer ostwärts in einem der entlegensten Winkel des Landes, wo sie eine Jagdhütte unterhielt und ihre Gäste spektakuläre Fischfänge machten und auch Großwild erlegten.
Sie kam in Begleitung ihres Sohnes und unterbreitete einen erstaunlichen Vorschlag: »Ich habe meinen Jungen zu Hause unterrichtet, seit er ein Kind war, mit Lehrbüchern, die ich mir aus Amerika habe schicken lassen. Es ist zwar noch reichlich früh für ihn, aber ich finde, er sollte sich schon mal auf die Eignungstests vorbereiten. Ich bin sicher, er ist reif fürs College.«
Dann stellte sie ihren Sohn vor, Stephen Colquitt, 1,85 Meter groß, schüchtern, aber mit Adleraugen, die pfeilschnell hin und her huschten und alles im Blickfeld erfassten . »Weswegen ich gekommen bin ...«, erklärte die Mutter Direktor Hooker nervös, »Sie sollen hier eine Miss Scott als Lehrerin haben. Wir haben nur Gutes über sie gehört, und sie soll vor allem gut im Mathematikunterricht sein. Ob sie wohl unserem Stephen Nachhilfe geben könnte?«
Hooker druckste herum: »Das würde ganz aus dem Rahmen fallen ... ist eigentlich nicht möglich ... ihn in unsere Schule aufzunehmen, wenn er nicht in unserem Distrikt wohnt.«
»Oh! So war das nicht gemeint. Wir wollen ihn nicht auf Ihre Schule geben. Wir hatten eher an Nachhilfestunden gedacht.« Und bevor der Direktor darauf etwas sagen konnte, fügte sie hinzu: »Wir wären natürlich auch bereit zu zahlen - für die Stunden außerhalb, meine ich.«
»Ich würde nichts verlangen«, sagte Kendra. »Eine gute Gelegenheit, meine eigenen Algebrakenntnisse aufzufrischen.«
»Und Trigonometrie«, bemerkte Stephen, und Kendra sagte: »Also gut, werden wir uns auch darin vertiefen.«
Die folgenden Wochen waren so produktiv, dass Stephen im Eiltempo in Algebra, Geometrie und Trigonometrie aufholte, was Kendras Schuldgefühle wegen Amys Tod zum Teil wettmachte, und eines Abends sagte sie zu Afanasi und Hooker: »Was diese Mutter mit dem Lehrmaterial für Heimunterricht erreicht hat, ist einfach unglaublich. Wenn Stephen den Eignungstest macht, dann kann ich euch verraten: Soviel Punkte, wie der macht, gibt es gar nicht.«
Kasm Hooker dagegen war von einem ganz anderen Talent des jungen Mannes angetan: »Sein Vater hat früher Basketball im College gespielt, und zu Hause haben sie sich neben dem Fluss ein reguläres Spielfeld abgesteckt. Sie können sich nicht vorstellen, was für Ballmanöver der Kleine draufhat.«
Bei den improvisierten Spielen, die das Dorf abhielt, wenn gerade keine andere Schulmannschaft zur Verfügung stand, hatte man sich so geeinigt, dass Hooker und Colquitt jeweils auf einer Seite spielten, und schon beim ersten Mal verblüffte der Junge den Direktor und die Dorfbewohner durch sein Geschick, den Ball nach einem Vorteil ins Netz zu manövrieren, ohne einmal unnötig zu dribbeln. Was jedoch geradezu Lobeshymnen auslöste, war Steves besonderer Doppelausholer, wobei er vortäuschte zu werfen, Hooker somit zum Sprung brachte, während er den Ball festhielt und erst dann warf, wenn Hooker wieder gelandet war und nicht mehr decken konnte.
»Wo hast du das gelernt?« fragte der Direktor während einer kurzen Auszeit ganz außer Atem, und Steve gab zur Antwort: »Mein Vater hat ’ne gute Empfangsantenne, und ich habe mir jedes Spiel mit Earl the Pearl angesehen.«
Als dann noch die Ergebnisse von Steves Universitätseignungstests kamen, war allen klar, was Mrs. Colquitt schon immer gewusst hatte. »Der Junge kann sich das beste College aussuchen«, sagte Hooker, gewöhnt an Punktergebnisse, die unter dem Durchschnitt lagen, und schickte umgehend Bewerbungsschreiben an mehrere Schulen. Er legte ein Empfehlungsschreiben des Trainers aus Fairbanks bei:
»Kasm Hooker, jetzt in Desolation, und ich haben zusammen in
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