Albach und Mueller 01 - Russische Seelen
ich …«, sie überlegte kurz, »na gut, aber ich muss noch schnell etwas aus dem Auto holen.«
Sie ging noch einmal zurück zum Fiat-Fiorino der Firma Müller & Gebhardt und holte ihre Umhängetasche.
»… und schließlich habe ich gesagt, wenn das Mädchen Schreiner werden will, dann soll sie machen«, knarrte Irinas Vater. »Das hat sie von einem Onkel meiner Frau. Der hatte ein kleine Werkstatt in Kasachstan. Sie ist viel dort gewesen als kleines Mädchen.«
»Das Arbeitsamt hat immer gesagt, sie soll Friseurin werden oder Verkäuferin für Wurst«, Frau Balenkow öffnete den Hahn des Samowars und schenkte Renan Tee ein. Obwohl ihr Mann deutschstämmig war und sie Russin, sprach sie schon besser Deutsch als er. Herr Balenkow war groß, hatte schütteres blondes Haar und einen Schnauzbart. Er thronte auf einem farblich sehr gewagten Sessel und rauchte eine unsäglich stinkende Zigarette. Die Eltern wohnten mit Irina und ihrem älteren Bruder in einer Vier-Zimmer-Wohnung aus den sechziger Jahren. Die Decken waren niedrig und die Fenster winzig. Die Möbel schienen zum großen Teil vom Gebrauchtwarenhof zu stammen. Renans Respekt vor der kleinen Irina wurde immer größer, je länger sie auf dem Sofa neben der Mutter saß.
»Wie lange sind Sie denn schon in Deutschland?«, fragte sie.
»Dreieinhalb Jahre«, antwortete Balenkow, »Wir wollten schon viel früher gehen, aber mein Vater nicht. Ich habe ihn nicht alleine lassen wollen. Er ist gestorben vor vier Jahren.«
»Dreieinhalb Jahre erst?«, Renan war erstaunt. »Da haben Sie ja noch nicht viel Zeit gehabt. Also, ich meine, die Sprache lernen, Arbeit finden, Schulbildung für Irina …«
»Und erst für ihren Bruder«, ergänzte Frau Balenkow, »wissen Sie, wir Frauen kommen immer zurecht, aber wenn die Männer nichts zu tun haben, ist es wirklich schlimm!« Frau Balenkow war schwarzhaarig, blass und zierlich. Trotz ihrer geringen Körpergröße strahlte sie eine gewaltige Energie und Entschlusskraft aus. Sie sagte ein paar kurze Worte auf Russisch, woraufhin ihr Mann die eben entnommene Zigarette wieder zurück in die Schachtel steckte und seiner Frau dafür das Teeglas reichte. Irina erhielt einen knappen Befehl, verschwand in der kleinen Küche und kehrte mit einem Teller eingelegter Gurken zurück.
»Aber über Waldemar, meinen Mann, kann ich mich nicht beschweren – nehmen Sie eine Frau Müller –, er trinkt fast nie Wodka und er hat vom ersten Tag an Arbeit gesucht. Aber es war sehr schwer!«
»Die sind ja salzig«, Renan hatte in eine der Gurken gebissen.
»In Deutschland die Gurken sind immer so sauer«, die Russin verzog das Gesicht, »aber bei uns zu Hause isst jeder nur salzig. Schmeckt Ihnen nicht?«
»Das ist wahrscheinlich nur Gewöhnungssache«, lächelte Renan.
»Papa sagt immer, ohne uns Kinder wäre er wahrscheinlich nicht weg aus Kasachstan«, nahm Irina das ursprüngliche Thema wieder auf.
»Tatsächlich«, Renan wurde neugierig, »und warum?«
»Wir haben es nicht so schlecht gehabt«, brummte Balenkow, »vielleicht kein Bad für uns alleine, nicht so viele Sachen zu essen oder zum Anziehen. Aber irgendwie ist immer gegangen. Leute haben sich geholfen. Aber ist keine Zukunft für Kinder. Sie lernen keinen Beruf und dann werden immer mehr Drogen …«, er brach im Satz ab und blickte nachdenklich auf die Gurke in seiner Hand.
»Es ist schon besser so«, nickte Irinas Mutter, »jetzt bekommen unsere Kinder beide eine Ausbildung, wir haben sofort Möbel bekommen und es geht kein Wind durch die Fenster. Und mein Mann hat jetzt auch eine richtige Arbeit gefunden, in einer Schlosserei.«
»Wo haben Sie denn bisher gearbeitet?«, Renan wollte langsam zur Sache kommen, da sie sich aus einem bestimmten Grund hatte überreden lassen, mit den Balenkows Tee zu trinken.
»Wenn du gar nichts anderes findest, gehst du zu Güterbahnhof. Auf der Straße stehen und warten. Manchmal kommt jemand und hat Arbeit für einen Tag.«
»Und dort stehen jeden Tag mehrere Aussiedler?«, Renan kramte in ihrer Tasche.
»Dreißig, manchmal vierzig Leute«, nickte Balenkow, »nur Russen.«
»Kennen Sie zufällig diesen Mann?«, sie hielt ihm das Foto des Mordopfers hin. Sie hatte sich spontan entschlossen, einen Schuss ins Blaue zu riskieren.
Er nahm das Bild und sah es sich genau an, dann schüttelte er den Kopf: »Nein, ich glaube nicht, dass ich ihn schon einmal gesehen habe. Aber sieht sehr russisch aus.«
»Ja, davon, dass er Russe war,
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