Albertas Schatten
hereinkam.
Woher die Einsamkeit kam, die ihn bereit machte, mein Freund zu werden, habe ich nie gefragt, nicht einmal mich selbst, nicht damals. Wäre ich ein Junge gewesen, hätte ich eine Bedrohung für ihn sein können; aber als Mädchen war ich das nicht. Selbst als ich, wie sich später herausstellte, die meisten Dinge besser konnte als er, sogar ausgesprochene Jungensachen, die Kraft und Mut erforderten, hatte er eine naturgegebene Überlegenheit eben dadurch, daß er ein Junge war; er konnte mir diese Genugtuung zugestehen. Und da ich nur den Sommer über dort war – damals beim ersten Mal wußten wir noch nicht, daß es jeden Sommer sein würde, aber selbst dann war ein Sommer kein ganzes Jahr –, habe ich nie seinen Platz in der Familie, bei seinen Eltern oder bei meiner »Tante« bedroht. Zum Beispiel freute sie sich über sein Latein büffeln, da sie selbst diese ehrwürdige Sprache als Kind gelernt hatte, und spöttelte über meine Ignoranz diesen Dingen gegenüber. Wie so viele Frauen, die ich in späteren Jahren kennenlernen sollte, erwartete sie nicht, daß andere weibliche Wesen die Privilegien hatten genießen können, die ihr als Ausnahme von dem so ungerechten Los der Frauen zuteil geworden waren. Aber ich hatte in diesem Augenblick beschlossen, daß sie sie bei mir finden sollte. Cyril zeigte sich bereit, mich zu »unterrichten«
– was bedeutet, daß er mir sein Lateinbuch lieh, während er selbst die Zeitschrift ›Boy’s Own‹ las. (Als ich wieder in den Staaten war, fand ich dann einen Lateinlehrer und setzte meine Studien bis hin zu Vergil fort, den ich noch heute lesen kann, mehr noch; ich kann ihn rezitieren – zumindest die Passage, in der die Trojaner das Pferd zurücklassen. Mein Ärger über Dido ist so groß, daß ich nie in der Lage war, diesen Abschnitt im Kopf zu behalten, und sogar meine Tante, die leichtfertig andere Frauen in den häuslichen Bereich verwies, den sie selbst verachtete, hielt Dido für verrückt, ich glaube, weil Dido ein Königreich zu regieren hatte). Ich wußte damals noch nicht, wie viele Heldinnen es gab, von Maggie Tulliver bis Ursula Brangwen, die glaubten, die Kenntnis der Antike verschaffe ihnen Zugang zum geheimnisvollen Königreich männlicher Macht; wenn man die priesterliche Sprache erlernt, hat man dann nicht auch Zugang zu den priesterlichen Mysterien?
Wie dem auch sei, Latein war weniger wichtig als die Kleidung.
Sogar noch heute und in meinem Alter würde ich, fragte man mich nach dem am intensivsten empfundenen Moment in meinem Leben, den Augenblick nennen, als Cyril mich seine Schuluniform anziehen ließ. Die großen Ferien hatten begonnen, und ich lief den ganzen Tag mit ihm herum, angezogen wie ein Junge und von allen als Junge angesehen. (Cyrils Haar war nach englischer Art geschnitten und so lang wie meines). Seine Hosentaschen waren sehr tief, und man konnte mehr hineintun, als ich je für möglich gehalten hätte. Voller Begeisterung vergrub ich meine Hände in ihnen. Ich konnte mich völlig frei bewegen, auch mit gespreizten Beinen dasitzen. Ich erinnere mich, wie wir mit dem Bus nach Blenheim fuhren – unsere Lieblingstour – und durch die Häuser und Gärten flitzten. Nie zuvor hatte ich ein solches Glücksgefühl gekannt.
Er ließ mich seine Sachen nicht wieder anziehen; hätte es seine Mutter herausgefunden oder gar sein Vater, wäre für uns beide sicher der Teufel los gewesen. Und ich mußte als Gegenleistung für sein großes Wagnis versprechen, ihm den ganzen Sommer über treu zu dienen. Aber vielleicht weil ich den einen Tag seine Sachen getragen hatte – sozusagen als Junge gegolten hatte –, erlaubte er mir, gelegentlich an Spielen mit seinen Freunden teilzunehmen, was jedoch sehr selten vorkam. Ich bat meine Tante, mir Jungenkleidung zu kaufen, und sie mußte zugeben, daß meine Kleider für das Leben, das ich führte, ungeeignet waren. Ich erinnere mich, daß wir in ein Konfektionsgeschäft gingen und eine englische Schuluniform für Mädchen kauften: wie die von Cyril, abgesehen vom Rock und der Mütze. Das war entschieden besser als gar nichts; niemals hätte ich den Mut aufgebracht, in dem Geschäft um die Hose zu bitten, die ich gerne gehabt hätte; nicht einmal um eine kurze, wie Cyrils. Schließ-
lich wußte ich, daß eine solche Bitte meine Tante zutiefst schockiert hätte. (Es gibt ein Porträt von ihr, das sie als Rektorin ihres College zeigt, in ihrer akademischen Tracht mit Krawatte. Aber die
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