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Albertas Schatten

Albertas Schatten

Titel: Albertas Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Cross
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hatten, auf der Farm zu arbeiten. Das Trimester war also noch voll im Gange, als ich in Oxford ankam. Ich wurde von einem freundlichen Herrn abgeliefert, der auf dem Schiff ein Auge auf mich hatte. Obendrein hatte er die Liebenswürdigkeit (für die er, wie mir heute klar ist, entlohnt wurde, was aber seiner Freundlichkeit keinen Abbruch tat), mich zunächst nach London zu begleiten und dann mich und meine zahlreichen Taschen vom Waterloo- zum Paddington-Bahnhof zu befördern und in den Zug nach Oxford zu setzen; als wir schließlich am Bahnhof in Oxford angekommen waren, brachte er mich per Bus zu einem Haus in der Woodstock Road.
    Meine Tante war nicht zu Hause, aber die Hausbesitzerin, von der meine Tante eine separate Wohnung gemietet hatte, erwartete mich. Bei ihr, ihrem Mann und ihrem Sohn sollte ich hauptsächlich bleiben. Sie begrüßte mich mit dem beiläufigen Wissen um die Be-dürfnisse eines Kindes, dem man mit Fürsorge, aber doch spontan, begegnen mußte. (Ich weiß heute, daß das die Art ist, mit der ich mit den Kindern von Ted und Jean umgehe; mit welchem Erfolg, weiß ich nicht: Es sind andere Zeiten, andere Kinder und ein anderes Land. Ich habe oft sagen hören, daß die einzigen Fehler, die Eltern bei ihren Kindern nicht machen, diejenigen sind, die deren Eltern bei ihnen gemacht haben. Vielleicht behandeln wir Kinderlosen Kinder mit der Liebe, die uns in unserer Jugend geschenkt worden ist). Sie erzählte mir von sich selbst, von ihrem Mann, einem Dozenten an der Universität Oxford, der selten zu Hause war, und ihrem Sohn, einem Jungen in meinem Alter. Er war Externer an der Dragon School in Oxford, einer Vorstufe zum College, und kam gerade herein, als ich auf einem Hocker saß und ein Marmeladebrot aß. Wäre mir die Sprache romantischer Liebe in ihrer gebräuchlichsten Form geläufig, so würde ich sagen, ich verliebte mich auf den ersten Blick in ihn. Aber das wäre nicht wahr. Oftmals glauben wir Frauen (und, soweit ich weiß, könnte das Gegenteil für Männer zutreffen), daß wir uns in einen Mann verliebt haben, wenn wir uns in Wirklichkeit nur in die Erfahrung verliebt haben, in unserer Welt als stark zu gelten.
    Ich bin sicher, daß ein großer Teil der Anziehung, die Rochester auf Jane ausübte, aus der Erfahrung bestand, die er in sexuellen und anderen Bereichen hatte. Was er ihr bieten konnte, war ein Bericht über diese Erfahrungen. Und genau das bot Cyril mir.
    Am deutlichsten erinnere ich mich daran, wie er angezogen war, und daran, daß in diesem Moment in mir der Wunsch wach wurde, genauso angezogen zu sein. Viele Jahre später las ich von einer be-rühmten Schriftstellerin, die durch den Verlust eines Koffers gezwungen war, Kleidung ihres Bruders zu tragen, und die das Gefühl von Freiheit, das sie dabei empfand, nie vergaß. Es war nicht nur die Bequemlichkeit der Kleidung, sondern auch ihr Stil: In meinen neid-erfüllten Augen vereinte sie Bequemlichkeit und sichtbare Zugehö-
    rigkeit zu einer Gemeinschaft. Er trug kurze graue Flanellhosen mit Kniestrümpfen, Hemd und Krawatte und einen Blazer mit dem Schulabzeichen auf der Brusttasche. All dies nahm ich bereits im ersten Moment in mich auf, so wie es in der Schlagerlyrik der zwanziger und dreißiger Jahre beschrieben wird: »Mein Blick, er traf den deinen…« und so weiter, und so weiter. Augenblicklich kam es mir so vor, als müßte ein solcher Junge in solch einer Schule in England das glücklichste Geschöpf auf Erden sein.
    Seit jener Zeit habe ich viel über die oberen Gesellschaftskreise und den Geist überkommener Sitten nachgedacht, die für ein paar privilegierte Jungen auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch Geltung hatten. Ich glaube behaupten zu können, daß ich die Autoren der Orwell-Generation und deren Nachfolger so gründlich studiert habe wie andere. Ich verstehe die empörenden Privilegien, die unbestritte-nen Rechte – die Arroganz, wenn man so will – dieser Jungen, die ihren unausweichlichen Weg gehen von der Grundschule bis zur Universität und die ein Leben auf altehrwürdigem Rasen führen, begleitet vom Geräusch der an langen Sommernachmittagen ge-schlagenen Cricketbälle, von Glockengeläut und dem Krächzen der Krähen, die die hohen, alten Bäume umkreisen. Das war meine Romanze; zweifellos war sie beeinflußt von dem, was ich über das edwardianische England gelesen hatte und von goldenen Sommernachmittagen; all das lag für mich in dem kurzen Augenblick, als Cyril an jenem Nachmittag im Juni

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