Albertas Schatten
als an einem mit ihrer eigenen Frau.«
»Was Alberta in ihrem Tagebuch über Cyrils Mutter schreibt, be-stätigt das.«
»Genau. Das Problem ist, daß man wirklich eine Menge Negatives über die Stanton berichten kann; die positiven Aspekte sind schwer faßbar; warum, zum Beispiel, hat sie die ganzen Jahre nur herumgeredet, statt direkt auf die Arbeit für ihren Bachelor of Letters zuzusteuern? Hatte sie Affären, und, wenn ja, mit wem? Und, zu guter Letzt, welcher Art war ihre Beziehung zu Alberta, warum hat sie sie im Sommer immer zu sich nach Oxford eingeladen?«
»Gibt es keinen einzigen Hinweis?«
»Bis jetzt nicht. Es ist schon merkwürdig; ich dachte, wir könnten Alberta vielleicht hypnotisieren, und so ein oder zwei Anhaltspunkte bekommen, aber das können wir nun wohl vergessen – zumindest scheint es so. Vielleicht wäre etwas hinter der sogenannten
›Deckerinnerung‹ hervorgekommen; einen Versuch wäre es wert gewesen. Was mich natürlich am meisten ärgert, sind all die Fragen, die ich Alberta nicht gestellt habe, als ich die Gelegenheit hatte. Wie hätte ich wissen sollen, daß sie auf diese Weise verschwindet? Ich hätte sie fragen können, ob sie in jenen Jahren mit Charlotte Stanton in Verbindung gestanden hat, aber ich hoffte auf lange Gespräche und darauf, viele Fragen stellen zu können. Glauben Sie, daß jemand sie entführt hat, um selbst eine Biographie zu schreiben? Man wird sie einer Gehirnwäsche unterziehen, dafür sorgen, daß sie die Vergangenheit vergißt, und sie dann wieder laufen lassen. Soviel zum Thema Hypnose.«
»Zu dumm, daß Cyrils Mutter nicht mehr lebt.«
»Beide Eltern sind inzwischen tot; der Vater starb vor Cyril und die Mutter erst vor ein paar Jahren. Lauter Sackgassen!«
»Könnten Sie mir alle Stanton-Romane leihen, nur für kurze Zeit?« fragte Kate. »Ich verspreche, sie umgehend in unverändertem Zustand zurückzugeben.«
»Selbstverständlich. Ich besitze alle Erstausgaben, es ist also ein Vertrauensbeweis.«
»Was ich sehr zu schätzen weiß. Aus irgendeinem Grund ist es mir wichtig, sie so zu lesen, wie sie ursprünglich veröffentlicht worden sind; zweifellos ein noch nicht ganz verkümmerter wissenschaftlicher Instinkt.«
Kate nahm sieben Romane mit, entschlossen, sie von Anfang bis Ende zu lesen. Möglich, daß das ins Nichts führte; wahrscheinlich sogar. Aber als berufsmäßig Lernender und Lehrer der Literatur sollte man einen gewissen Glauben an die enthüllenden Möglichkeiten eines Textes haben; das sagte sich Kate, um sich selbst zu überzeugen, als sie, die Tasche mit den Büchern an sich gedrückt, ein Taxi herbeiwinkte. Man brauchte schon triftige Gründe, wenn man Romane auf Kosten der eigentlichen Arbeit las.
Kate las die Romane, wenn sie nicht gezwungen war, etwas anderes zu tun, und brauchte dafür eine Woche. Am Ende dieser Woche hatte auch Lillian die ihr gestellten Aufgaben erfüllt. Das heißt, sie hatte Photokopien von einer unglaublichen Menge – so zumindest schien es Kate – von Artikeln gemacht; die meisten waren Berichte aus Zeitungen und Zeitschriften und in einem sehr populären und geschwätzigen Ton gehalten; dazu noch ein Porträt der Stanton.
Diese Berichte waren umständlich, spekulativ oder analytisch; Lillians Meinung nach war keiner davon auch nur einen Pfifferling wert.
Kate überflog die Texte und war geneigt, ihr zuzustimmen.
»War in dem, was du gefunden hast, überhaupt etwas, was Aus-kunft geben könnte über die Grundlage ihrer Freundschaft mit Alberta? Vorausgesetzt, eine solche Freundschaft hat bestanden«, fragte Kate Lillian.
»Soll das heißen, wir haben außer Albertas Tagebuch keinerlei Grund, die ganze Geschichte von ihrer Kindheit in Oxford, ihrer Beziehung zu Charlotte Stanton und so weiter zu glauben?« sagte Lillian und machte es sich in Kates Wohnzimmer bequem.
»Du bist entschieden zu clever für Watson«, sagte Kate. »Es ist meine Aufgabe, diese Frage erst ganz am Ende zu stellen und sie bis dahin sorgfältig zu hüten als den entscheidenden Hinweis.«
»Haben wir denn überhaupt einen Grund dafür?« beharrte Lillian.
»Unglücklicherweise eine ganze Menge. Mr. Fothingale hat das alles in England abgeklärt, herumgefragt und eine Menge Zeit zugebracht und Geld ausgegeben – Charlies Geld, möchte ich betonen. Es gibt Berichte über Albertas Anwesenheit im Haus von Cyrils Familie; die Tante hatte eine Wohnung dort, und sie hat Alberta in ihrem Testament erwähnt. Sinjin wurde
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