Albertas Schatten
verherrlichen. Aber das hat schließlich auch Charlotte Brontë getan. In ›Shirley‹ sagt Caroline Heistone: ›Ich hätte gern eine Beschäftigung; wenn ich ein Junge wäre, wäre es nicht so schwierig, eine zu finden.‹ Warum sich also mit weiblichen Charak-teren und Liebesgeschichten herumschlagen, wenn man über alles andere schreiben kann, solange man Männer zu Hauptfiguren macht.«
»Ich verstehe, was du meinst. Das beweist aber noch nichts von ihrer Verbindung.«
»Kaum. Es gibt eine Szene in einem der Bücher, in der der Vater eines jungen Mannes in irgendeinen Krieg zieht und seine schwange-re junge Frau zurückläßt; er vertraut seine Frau der Obhut seines Sohnes an, mit ganz klaren Anweisungen: Wenn das Baby ein Mädchen ist, bring’ es um oder setz’ es aus; ist es ein Junge, behalt’ es.
Das Baby war ein Mädchen, aber der junge Mann hatte Mitleid mit der Mutter und ließ es ihr. Ein Bezug zu Alberta?«
»Sicher begeht man im England des zwanzigsten Jahrhunderts keinen Kindesmord.«
»Ich meine das im übertragenen Sinn, nicht wörtlich – ach, was macht das schon für einen Unterschied?« sagte Kate und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Schließlich sagte sie: »Wir sollten die Sache lieber für eine Weile ruhen lassen; wenigstens für ein paar Wochen. Alles, was wir in Wirklichkeit haben, ist ein Nicht-Dasein.
Keine Alberta. Wir haben kein Motiv, keinen Beweis dafür, daß sie mehr als nur verschwunden ist, keine Person, die wir ohne wildes Fantasieren verdächtigen könnten. Charlie, Ted und Jean, George, Toby – wem von ihnen ist sie so wichtig, daß er sie töten oder entführen würde, frage ich dich? Ich fürchte, Lillian, die Textverarbeitung ruft.«
»O.k.«, sagte Lillian und erhob sich aus der horizontalen Lage auf der Couch. »Ich habe genug bei dir verdient, um ein oder zwei Wochen davon leben zu können. Vielleicht stellt sich in der Zwischenzeit irgend etwas heraus. Sag’ mir Bescheid.«
Und Kate gab Charlie die Romane zurück, heftete die Zeitungsar-tikel ab und schenkte ihre Aufmerksamkeit den sich mehrenden Anforderungen der letzten Wochen des Universitätssemesters.
10
Z ahlenmäßig gesehen war die Reaktion auf Kates Anzeige in der
›MLA-Newsletter‹ recht zufriedenstellend. Kate war erstaunt und erfreut darüber, wie viele Mitglieder geisteswissenschaftlicher Fakultäten an englischen Autoren interessiert waren, die im zwanzigsten Jahrhundert in Oxford gelebt hatten. Die Tatsache, daß beinahe jeder, dem das Oxford jener Jahre vertraut war, auch etwas über Charlotte Stanton wußte, bewies Kate, daß die Situation der sogenannten kleineren Schriftsteller keineswegs so düster war, wie sie –
und zweifellos auch andere – immer vermutet hatte. Als Rektorin eines Colleges und auf ihrem Gebiet anerkannte Wissenschaftlerin war die Stanton eine Persönlichkeit. Daß sie auch populäre Geschichten schrieb, wurde einfach nicht zur Kenntnis genommen; Kate gewann diesen Eindruck beim sorgfältigen Durchgehen ihrer Briefe und der beiliegenden Artikel, die – oft nur in einer Fußnote –
auf die Stanton Bezug nahmen. Das Romaneschreiben war die Pri-vatangelegenheit eines jeden, wie jegliche andere, schwer akzeptable Anomalie dieser Art auch. Und, wie Kate sehr wohl wußte, wurde ein Interesse an »modernen« Autoren wie Joyce, Lawrence oder Woolf nur dann gutgeheißen, wenn es sich ausschließlich auf deren Veröffentlichungen bezog, sie aber nicht Gegenstand von Vorlesungen oder Seminaren wurden. In den siebziger Jahren hatte sich all das natürlich geändert. Aber inzwischen befand man sich schon mitten in der postmodernen Epoche, die Modernen waren Geschichte geworden und konnten als Gegenstand akademischer Auseinander-setzung gelten. Die Aufgliederung in bestimmte Perioden war schon etwas Merkwürdiges.
Wenigstens konnte die Stanton so ihre Romane schreiben, ohne mit jener wahren Literatur in Kollision zu geraten, die Oxford eines Studiums für würdig hielt.
Kate las die Briefe mit Begeisterung. Trotz der Tatsache, daß sie Alberta Ashbys Namen in Großbuchstaben an den Anfang ihrer Anzeige gesetzt hatte, bezogen sich die meisten Personen, die Kate angeschrieben hatten, nur auf Charlotte Stanton. Kate hatte das Ge-fühl, daß sie begierig darauf waren, mit jemandem zu sprechen oder zu korrespondieren, der die Stanton und ihr Werk kannte.
Von der Einsamkeit eines Wissenschaftlers spricht man nicht viel, besonders wenn er sich mit einer weniger
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