Albertas Schatten
Lillians Willen – keine Kapriole unterstützen, die Lillian davon abhalten könnte, sich Dingen zu widmen, die vielleicht einmal ihre Lebensaufgabe werden könnten. Gleichzeitig ertappte sich Kate dabei, beinahe in die Fußstapfen ihrer Brüder zu treten. Deren Überzeugung nach sollte man nicht zu lange nach seinem zwanzigsten Geburtstag seinen Platz im Leben gefunden haben. Wenn Lillian sich noch ein wenig umsehen wollte, so war das für sie vielleicht richtig. Watson war wahrscheinlich nicht die ideale Rolle für sie, aber andererseits war es kaum weniger befriedigend, Nachforschungen über Charlotte Stanton anzustellen, als für eine Anwaltskanzlei die Textverarbeitung zu machen. Wenn Kate die Ängste betrachtete, die das Tantesein mit sich brachte, war sie froh, keine noch engere Verbindung mit der Jugend eingegangen zu sein.
Muttersein war vermutlich noch schwieriger, da man noch weniger in der Lage war, einen kühlen Kopf zu behalten. Kate hatte festgestellt, daß es Eltern beinahe unmöglich ist, bei Ratschlägen, die sie ihren Kindern geben, emotionslos zu bleiben; sogar die Haltung einer distanzierten Besorgnis findet auf dem Konto der langfristigen elterlichen Gefühle ihren emotionalen Niederschlag. Da Watson und Holmes nicht miteinander verwandt waren, konnten sie sich also besser auf ihre Arbeit konzentrieren.
»Ich möchte alles wissen, was über ihr Leben zu erfahren ist«, sagte Kate zu Lillian. »So einfach ist das. Natürlich suche ich nach Hinweisen, was die Verbindung zwischen Alberta und Charlotte Stanton angeht, aber wenn wir uns auf nur eine Sache konzentrieren, übersehen wir vielleicht etwas anderes, noch wichtigeres.«
»Super«, sagte Lillian. »Bist du darauf gefaßt, mir das höchste Gehalt zu zahlen, das eine Sekretärin auf Zeit jemals verdient hat, wenn ich dieses Stanton-Zeug lese? Sollte ich zu Hause lesen oder in einer offizielleren Umgebung?«
»Wenn das ›Zeug‹ nur in Bibliotheken zu haben ist, wirst du es dort lesen müssen. Wenn nicht, dann lies es wo du willst. Ich glaube, ich werde auch in die Romane hineinschauen – wenn zwei sie lesen, kommt vielleicht mehr dabei heraus, als bei nur einem, aber ich verlasse mich auf dich, was die Zusammenfassungen aller Biographien, Kritiken und Briefe angeht und die Berichte über alle veröffentlichten und unveröffentlichten Werke, die du finden kannst. Das meiste davon wird von Charlie kommen.«
»Aber du willst dich nicht auf ihre Zusammenfassungen verlassen?«
»Nein, und nur zum Teil, weil ich dich mit anständiger Arbeit versorgen will. Wir könnten manches anders sehen als Charlie…«
»Oder etwas entdecken, was Charlie uns nicht sehen lassen möchte.«
»Da ist es! Das erste Gesetz für die Detektivarbeit heißt: Verdächtige jeden!«
»Ausgenommen natürlich Watson und Holmes.«
»Selbstverständlich. Während du liest und deine Zusammenfassungen machst, werde ich in eine völlig andere Richtung marschie-ren. Wir wollen unsere Notizen in – na, sagen wir – einer Woche vergleichen.«
»Wieviel, glaubst du, kann ich in einer Woche lesen?«
»Du wirst sehen, eine ganze Menge, wenn du wirklich nur die Zeit berechnest, die du mit Lesen verbringst. Ich möchte auch alle Berichte haben, die es über Oxford zu der Zeit gibt, als Charlotte Stanton Rektorin war; du weißt schon, Erinnerungen von Studentinnen, denen sie aus der Klemme geholfen hat oder denen sie eine Strafe auferlegt hat, weil sie ohne Robe herumliefen – alle Ereignisse dieser Art.«
»Vielleicht sollte ich lieber eine Reise nach England machen und dort Nachforschungen anstellen«, sagte Lillian.
»Eines nach dem anderen«, antwortete Kate abwehrend.
Kate befolgte die Hinweise, die in dem Exemplar der ›MLA-Newsletter‹ standen, das sie an jenem Vormittag aus der MLA-Verwaltung mitgenommen hatte, und schickte ihre Anzeige ein. Sie fügte einen Scheck über drei Dollar pro Wort bei; das Minimum von zehn Worten bereitete ihr keine Schwierigkeiten. Im Gegenteil, ihre Fähigkeit der präzisen Ausdrucksweise wurde aufs äußerste gefordert. Die Anzeige hatte folgenden Wortlaut: Alberta Ashby: Jeder, der sie in den letzten Jahren bei einem MLA-Kongreß getroffen hat, sei es in einem Seminar über Charlotte Stanton und ihr Werk, sei es anderswo, möge sich bitte mit Professor Kate Fansler in Verbindung setzen.
Zum Schluß gab Kate ihre Adresse und Telefonnummer in der Universität an. Durch die Nennung der drei Namen, Albertas, Stantons und ihres
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