Albertas Schatten
sich in Amerika haben. Gleichzeitig aber erkannte er Charlotte Stantons Anrecht auf Alberta an und ließ das Kind die Sommerferien in Oxford verbringen. Wir wissen außerdem, daß sie in England lebte, bis er einen Hausstand gegründet hatte, in dem sie dann in den Vereinigten Staaten leben konnte. Er war also nicht nur außergewöhnlich, was die Liebe zu seiner kleinen Tochter anging, sondern auch, weil er eine Frau wie ihre Mutter geliebt hatte. Wer immer das auch gewesen sein mag, sie muß Charlotte Stanton gekannt haben; sie muß Akademikerin gewesen sein und eine Intellektuelle, wahrscheinlich ganz ähnlich wie Alberta.«
»Mit anderen Worten, Charlotte Stanton«, sagte Lillian. »Warum wird das nicht gerade heraus gesagt?«
»Weil es nicht Charlotte Stanton war«, sagte Kate. »Durch den Arztbericht ist zwar noch einmal bestätigt worden, daß sie niemals ein Kind zur Welt gebracht hat, aber gewußt haben wir das schon vorher. Wie wir aus Albertas Tagebuch wissen, hat ihre Tante, Charlotte Stanton, Alberta gesagt, sie sei nicht ihre Mutter, und das müsse Alberta ihr glauben, auch wenn andere Leute ihr etwas anderes sagen sollten. So, wie ich die Stanton einschätze, hätte sie das nicht gesagt, wenn es nicht wahr gewesen wäre. Und Alberta hätte diese Art von Lüge auch nicht über die Lippen gebracht, genauso wenig wie sonst jemand, mit dem sie verbunden war. Für Charlotte Stanton wurde die Angelegenheit natürlich durch die Tatsache erleichtert, daß es Alberta nie wirklich wichtig war, wer ihre Mutter gewesen ist; zumindest ist ihr diese Frage nie so bewußt geworden, daß sie ihr ernsthaft auf den Grund gehen wollte. Sie war nicht auf der Suche nach einer Mutter; dieser Trend ist eher neueren Datums. Was Alberta wirklich suchte, war eine Welt mit vielen Entfaltungsmöglichkeiten, so wie die Welt der Männer, und in solch einer Welt wollte sie leben. Die Einflußnahme einer anderen Frau wollte sie mit Sicherheit nicht.«
»Glaubst du denn, es war Sinjin?« fragte Charlie.
»Ja«, sagte Kate. »Das glaube ich. Es ist die einzige Möglichkeit, die einen Sinn ergibt, wenn man es von allen Seiten betrachtet. Sinjin hat ihr Geld zur Hälfte Alberta hinterlassen; sie wollte sie sehen, um mit ihr die Frage der Biographie Charlotte Stantons zu bespre-chen. Sie hat Charlie gebraucht, um Alberta zu finden; sie wollte Albertas Segen. Die Stanton hat vielleicht erwogen, Alberta ihr Vermögen zu hinterlassen, als sie ihr Testament bei Toby gemacht hat, aber Sinjin hat es ihr ausgeredet – so vermute ich –, oder sie ist zu dem Schluß gekommen, daß diese Tatsache als Beweis für scheinbar eindeutige, aber dennoch falsche Rückschlüsse benutzt werden könnte.«
Kate warf einen Blick aus dem Fenster, bevor sie weiterredete.
»Ich nehme an, Sinjin hatte sich in Albertas Vater verliebt. Wir müß-
ten mehr darüber herausfinden; das werden wir Charlie überlassen.
Wir können davon ausgehen, daß er im Zweiten Weltkrieg in England gedient hat; er muß schon immer eine Schwäche für England gehabt haben, denn er war schon dort, bevor die Vereinigten Staaten in den Krieg eingetreten sind. Von ganz besonderer Bedeutung ist die Tatsache, daß er bei Albertas Geburt Anspruch auf sie erhob; das wissen wir. Charlotte Stanton hatte eine enge Beziehung zu Sinjin; sagen wir ruhig, sie liebte sie. Wir wissen so verdammt wenig über Beziehungen zwischen Frauen – aber als Sinjin schwanger war, hat Charlotte Stanton ihr geholfen. Ich vermute – es sind alles nur Vermutungen –, daß Charlotte Stanton eine Menge Zeit gebraucht hat, bis sie herausgefunden hatte, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Am Ende entschloß sie sich zur Universitätslaufbahn – eine richtige Entscheidung, wie sich später herausstellen sollte. In ihrer kühlen Art fühlte sie sich zu Sinjins Tochter hingezogen – vielleicht hatte sie sie adoptieren wollen. Wahrscheinlich werden wir nie erfahren, warum Alberta nicht nach England zurückgekehrt ist, als sie die Collegereife erlangt hatte; aller Wahrscheinlichkeit nach irgendein ganz profaner Grund. Als die Stanton nach Amerika kam, hat sie Alberta vielleicht gesehen; alles, was wir wirklich wissen, ist, daß sie krank wurde und ihr Testament machte. Dann reiste sie zurück.«
»Mir kommt es vor, als hättest du das alles aus der Luft gegrif-fen«, sagte Lillian. »Du hast keinerlei Beweise. Du bist wie jemand, der ohne das geringste Quellenstudium eine Biographie schreibt.«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher