Albertas Schatten
durchzugehen.
Sie hatte Toby, Charlie und Lillian gebeten, nach dem Abendessen zu einem zwanglosen Geplauder zu ihr und Reed zu kommen. (Lillian hatte Leo erklärt: »Das bedeutet, daß sie nach dem Abendessen zu reden beginnt und daß es die ganze Nacht dauert.« Sie hatte versprochen, ihm darüber zu berichten. Kate hatte auch ihn eingeladen, aber einer der Seniorpartner saß an einem Schriftsatz, der – wenn überhaupt – von einer Justizangestellten gelesen würde, die zusammen mit Leo in der Law School gewesen war. »Ich könnte sie einfach anrufen und ihr das Wesentliche in nur fünf Minuten erzählen«, hatte Leo geklagt. Aber man verdient keine fünfzigtausend Dollar im Jahr bei einer Anwaltssozietät dafür, daß man ab und zu mit Justizangestellten ein Schwätzchen hält.)
Kate hatte Biddy Heffenreffer nicht eingeladen, aber sie hatte mit ihr gesprochen und sie um Erlaubnis gebeten, Charlie und Lillian von Martin und Alberta zu erzählen. Biddy zögerte, gab dann aber doch nach; schließlich war sie intelligent und sensibel genug, um Albertas Freundin gewesen zu sein. »Was habe ich schon zu verlieren? Es gibt da nichts, wofür ich mich schämen müßte; es ist nur so verdammt schade.« Kate stimmte ihr zu.
Nachdem Erfrischungen herumgereicht worden waren, sagte sie:
»Ich sehe die Sache folgendermaßen, und alles, was ihr tun müßt, ist, mir zu sagen, wo ich mich irre, oder wo meine Vermutungen zu abwegig sind. Denn es sind alles nur Vermutungen, darüber sollten wir uns im klaren sein. Ich glaube nicht, daß wir jemals die ganze Wahrheit erfahren werden, vielleicht nicht einmal einen größeren Teil davon. Aber ich mußte alles zu einer Geschichte zusammenfü-
gen, weil ich Alberta liebe; so einfach ist das. Ich denke, sie war ein bemerkenswerter, wundervoller Mensch –, es fehlen einem beinahe die Worte. Die Menschen, mit denen sie befreundet war, haben sie niemals vergessen, hatten immer das Gefühl, jemandem begegnet zu sein, der – wenn nicht einzigartig, so doch – sehr selten ist.«
Sie stockte. »Was wir haben, sind zwei Geschichten, wie ihr alle wißt. Zum einen die Geschichte von einer Universitätslehrerin und Schriftstellerin in England, die vor einigen Jahren gestorben ist, und von einer anderen Schriftstellerin, die erst kürzlich verstarb. Die andere Geschichte ist amerikanisch und handelt von einem Mann, den Alberta geliebt oder zumindest gebraucht und gemocht hat und mit dem sie eine längere Affäre hatte.«
Alle, mit Ausnahme von Reed, der das alles schon gehört hatte, starrten sie an. »Ich habe mir Alberta nie als Frau vorgestellt, die einen Mann liebt«, sagte Toby.
»Das war wohl einer unserer Fehler«, sagte Kate, »wenngleich nicht so sehr der meine, wie es eigentlich hätte sein können. Ich sage das zu meiner Rechtfertigung. Weil sie in ihrer Kindheit gern ein Junge sein wollte und weil sie die normalerweise als ›weiblich‹ be-zeichneten Dinge nicht mochte, sind wir nicht auf den Gedanken gekommen, sie als Frau zu sehen, die überhaupt eine leidenschaftli-che Beziehung mit einem Mann haben könnte. Alles, was dazu erforderlich war, war der richtige Mann. Denkt an Cyril, den kleinen Jungen in England. Er blieb ihr Kamerad auch in späteren Sommern, obwohl sie uns keine Einzelheiten über diese späteren Jahre hinterlassen hat. Sie wurden getrennt durch – wir wissen nicht, was; vielleicht durch die Zeit, vielleicht durch die Entfernung. Wir wissen, daß er ihr sein Vermögen hinterlassen hat. Sie muß ihm mehr bedeutet haben als nur eine Kinderfreundschaft. Vielleicht hatte er darüber nachgedacht, wie eine Beziehung zu ihr als reife Frau hätte sein können. Der Mann, den ich bei der MLA getroffen habe – er war ihr Freund in Ohio…« Die anderen blickten erstaunt auf, und Kate unterbrach sich, um über James Fenton zu berichten und über Alberta als junges Mädchen.
»Was ich damit sagen will ist, daß wir, trotz aller gegenteiligen Hinweise, Alberta nie als sexuelles Wesen betrachtet haben, zumindest nicht in bezug auf Männer; James Fenton aber erwähnte, daß seine Frau vieles mit Alberta gemeinsam habe. Wir alle sind daran gewöhnt, so konventionell zu denken; klar definierte Menschentypen müssen in die entsprechenden festumrissenen Schablonen passen.
Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, welche Art Mann Albertas Vater gewesen war. Er liebte das Kind und hatte das Sorgerecht, was für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich war. Er wollte sie bei
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