Albertas Schatten
geirrt«, sagte Charlie, als sie dies hörte; sie gehörte schon immer zu den Menschen, die bis zum Äußersten kämpfen. Charlie glaubte nun einmal, daß Charlotte Stanton Albertas Mutter war, und Kate vermutete, daß Charlie insgeheim bis in alle Ewigkeit an diesem Glauben festhalten würde.
Außerdem hatte sich herausgestellt, daß die Stanton in ihrem letzten Jahr in Sommerville am Ferientheater teilgenommen hatte und – wer hätte das gedacht – Sinjin ebenso; sie hatten das Stück zusammen geschrieben. Charlie sagte, Kate sei wirklich clever, wenngleich sie selbst, wäre sie für weitere Nachforschungen nach England gegangen, sicher dasselbe herausgefunden hätte. Kate sagte, daran habe sie keinerlei Zweifel, aber sie war doch ein wenig verwundert über dieses Verhalten. »Und was man in Sommerville von einem Detektiv gehalten hat, der Nachforschungen über das Som-mertheater anstellt, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen«, hatte Charlie hinzugefügt. Kate vermutete eher, daß Charlotte Stantons Ruhm die Einwohner schon lange gegen derartige Fragen abgehärtet hatte, ganz zu schweigen von den anderen bekannten Akademikern.
Toby war froh, wieder einmal mit Kate zum Lunch zu gehen, aber zum Testament wollte er sich nicht klar äußern. »Es ist einfach ein logisches Vorgehen, wenn man weiß, der Erbe ist amerikanischer Staatsbürger und lebt auch in den Staaten.«
»Aber in dem ersten Testament, dem von Charlotte Stanton, war Sinjin die Erbin, und sie war weder amerikanische Staatsbürgerin, noch lebte sie in den Staaten.«
»Das war aber etwas anderes. Sie wurde hier schrecklich krank, und, wie so viele Menschen, hatte auch sie kein Testament gemacht.
Wahrscheinlich glaubte sie, sie sei herzkrank; vielleicht war es auch nur die Gallengeschichte, die Charlie herausgefunden hatte. Das war übrigens eine clevere Idee von dir.«
»Wie geht es dir, Toby?« hatte Kate gefragt.
»So gut wie noch nie. Charlie und ich werden heiraten, und wir werden es jedem erzählen können. Man wird eine Party für uns geben, und es wird wirklich ein großes Ereignis werden. Übrigens, ich habe Lillian in letzter Zeit kaum gesehen. Hat sie die Textverarbeitung aufgegeben?«
»Vorübergehend«, hatte Kate gesagt. Sie freute sich für Toby.
Der Tag, den sich Kate ausgesucht hatte, um ihre Theorie über Alberta und ihre Freunde zu entwickeln, war zufällig der Tag der Graduierungsfeierlichkeiten. Kate nahm gezwungenermaßen daran teil, da sie zur Vertrauenslehrerin bestimmt worden war. Das geschah etwa alle fünf Jahre, und es erfüllte Kate immer mit einer geheimen Freude, wenngleich sie lieber gestorben wäre, als dies zuzugeben. Sie ging nicht in der Prozession mit, sondern stand bei den Studentengruppen, die sie später zu ihren Sitzreihen führen muß-
te; von hier aus würde sie der Prozession zusehen und darüber nachdenken können, wie unbegreiflich anrührend die ganze Zeremonie doch war. Die Tatsache, daß alle Teilnehmer in langen Roben und mit Hüten auf dem Kopf an einem sonnigen Tag vor sich hinschmor-ten, steigerte nur noch die Absurdität des ganzen Ereignisses. Unsere Zeit hat keinen Platz mehr für derartige Zeremonien, wie die respekt-lose Haltung einiger Studenten nur allzu deutlich bewies; aber sie und Kate waren dennoch gerührt.
Kate hatte kürzlich etwas über die Graduierungsfeierlichkeiten im ganzen Land gehört, was sie sehr amüsiert hatte. Sie selbst war vielleicht auch bewegt, ging aber doch nur hin, wenn sie mußte, und auch dann nur widerstrebend. Die meisten Fakultätsmitglieder nahmen überhaupt nicht teil, so daß diese akademischen Prozessionen recht mager aussahen und zur Enttäuschung besonders für die Eltern wurden, die an die fünfzigtausend Dollar für den akademischen Grad ihres Sprößlings ausgegeben hatten. Irgend jemand hatte Kate er-zählt, die Kollegen und die Universitätsverwaltungen wären in den letzten Jahren strenger geworden. Entweder wurde in den neuen Anstellungsverträgen für Professoren festgehalten, daß sie den Feierlichkeiten im akademischen Ornat beizuwohnen hätten, oder – diesen Trick fand Kate besonders gut – das Abschlußdiplom des akademischen Jahres wurde nur bei den Graduierungsfeierlichkeiten ausgehändigt und nicht mehr denjenigen, die nicht anwesend waren, nach einem Monat per Post zugestellt. Autres temps, autres moers.
So kam sie also müde und erhitzt nach Hause, war aber dennoch entschlossen, die ganze Angelegenheit noch einmal
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