Albertas Schatten
möchte dazu eine Geschichte über Sylvia Plath erzählen«, sagte Kate. »Nach der Lektüre ihrer Werke hat eine Kritikerin geschrieben, wie stark Sylvia Plath von Virginia Woolfs ›The Waves‹
beeinflußt gewesen sei. Später hatte sie Gelegenheit, im Smith-College die Unterlagen der Plath durchzusehen. Es gab dort das Exemplar von ›The Waves‹, das der Plath gehört hatte und in dem genau die Zeilen unterstrichen waren, die die Kritikerin erwähnt hatte. Aber was wäre gewesen, wenn dieses Exemplar von ›The Waves‹ nicht erhalten geblieben und an das Smith College verkauft worden wäre, so man es studieren kann? Du hättest gesagt, es gibt keinen Beweis. Ich bin der Meinung, große Teile meiner Geschichte können bewiesen werden.«
»Willst du etwa sagen, du behandelst Albertas Leben und das Leben ihrer Vorfahren und Freunde so, als handelte es sich um einen Text?« fragte Lillian in ihrem besten Harvard-Tonfall.
»Ich würde es nicht so hochtrabend ausdrücken«, sagte Kate,
»aber eigentlich ist es das, was ich tue – ich nehme es an. Lillian, meine Liebe, versuch’ doch bitte, dich deiner Rolle als Watson zu erinnern, und beschränke dich auf ein paar Grunzlaute der Bewunderung.«
Lillian schnaubte wütend. »Aber wo war Alberta, bevor ihr Vater kam, um sie zu holen?« fragte Toby. »Hatte Charlotte Stanton oder Sinjin sie in Pflege gegeben?«
»Ja, ich glaube schon«, sagte Kate. »Zu der Zeit lehrte die Stanton schon an der Universität. Sie konnte das Kind nicht zu sich nehmen, und Sinjin heiratete und erwartete in Kürze George. Ich nehme an, es ist ihnen beiden klar geworden, daß Alberta bei ihrem Vater das bessere Zuhause haben würde; sie irrten sich nur in einem Punkt: Es ist ihnen nicht klar geworden, was für eine Art Kind Alberta war.
Wie wir heute wissen, wäre sie um vieles glücklicher gewesen, hätte sie in Oxford leben und bei Cyrils Familie wohnen können. Bevor ich nun übergehen möchte zu dem anderen Teil von Albertas Geschichte, dem späteren, der in Amerika spielt, denkt bitte an eine Sache, die ich vergessen oder nicht richtig verstanden hatte: Alberta mochte ihre ›Tante‹, sie mochte Charlotte Stanton. Die beiden waren dabei, Freundinnen zu werden, sicher wäre dies deutlich geworden, wenn Alberta ihr Tagebuch beendet hätte.«
»Wenn sie es beendet hätte, hätten wir es nicht zu lesen bekommen und würden jetzt nicht hier über sie sprechen«, meinte Lillian.
»Wenn ich sie nur besser kennengelernt hätte«, sagte Charlie traurig. »Sie hätte sich vielleicht dazu entschlossen, mir ihr Tagebuch zu zeigen.«
»Jedenfalls können wir aus der Tatsache, daß Alberta das Buch über ihre Tante gekauft hat, sicherlich schließen, daß sie stolz auf sie war. Charlotte Stanton hatte Albertas Vorstellungen entsprochen.«
Kate machte eine kleine Pause.
»Ich fühle mich nicht sehr wohl, wenn ich jetzt die andere Geschichte erzähle«, sagte sie. »Nicht nur, weil es eine ungute Geschichte ist; sie handelt auch von Menschen, die jetzt noch leben, zu dieser Zeit; sie haben nicht, wie die beiden englischen Freundinnen und Albertas Vater, ihr Leben bereits hinter sich.«
»Wenn du uns um Diskretion und Vertraulichkeit bittest, können wir sie dir zusichern«, sagte Toby.
»Ich habe euch ja schon gesagt, Alberta hatte ein Liebesverhältnis mit einem Mann, einem Professor für Literatur, namens Martin Heffenreffer. Lillian hat ihn kennengelernt; ich kenne ihn nicht.
Lillian, würdest du uns Martin Heffenreffer bitte beschreiben?«
Wie Kate erwartet hatte, fuhr Lillian hoch. »Der war Albertas Liebhaber? Um Himmels Willen, das hättest du mir doch sagen können, Kate. Gerade du hast mir gesagt, ich solle Albertas Namen ihm gegenüber nicht erwähnen; aber du hast mir nicht gesagt, warum.«
»Warum, wußte ich zu dem Zeitpunkt selbst nicht«, sagte Kate.
»Wenn du zuhörst, wirst du merken, daß ich das alles erst später herausgefunden habe.«
»Ich bin absolut nicht sicher, ob Watson Holmes so ununterbrochen zugehört hat. Und Watson durfte die Geschichten aufschreiben, was mir – ich ahne es – wohl nicht erlaubt sein wird.«
»Nein, mein Schätzchen, das wird es wohl nicht; aber du kannst Charlie bei ihrem Buch helfen. Es tut mir leid, und ich will versuchen, dich dafür zu entschädigen. Denk dir etwas aus.« Lillian schnaubte wütend, aber sie war nicht wirklich überrascht, das wußte Kate. Lillian selbst hatte schon lange damit gerechnet.
»Ein entsetzlicher
Weitere Kostenlose Bücher