Albspargel
jetzt mir. ›Weil noch ein zweiter Mord geschehen ist‹, gab sie zur Antwort. Ich finde, das leuchtet ein und hat nichts mit irgendwelchen Informationen zu tun. Ich meine ohnehin, dass sie es erst gesagt hat, nachdem Franziska hinausgegangen war.«
Die Erinnerungen lösten sich mehr und mehr auf, wie Träume vergehen, wenn man sie erzählen will.
»Zum Schluss habe ich dann noch ein Auto gesehen«, sagte ich mit einem Ton, als wäre ich ein Bauchredner.
»Ein Auto? Zum Schluss? Und wo?«
»Ein gutes Stück weg von Geisingen, in der Kiesgrube, dieser kleinen ehemaligen Müllkippe im Annaleu – da, wo die Schuhe von Amelie gefunden worden sind. Es fuhr davon Richtung Tigerfeld und am Ortseingang verschwand es dann zwischen den Häusern.«
»Klingt fast gespenstisch. Ausgerechnet dort, wo die Schuhe –«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein«, er lächelte, »vielleicht wollte das junge Glück Sie ja doch noch abholen.«
»Ausgerechnet im Annaleu. Jeder vernünftige Mensch wäre doch über Huldstetten gegangen. Woher sollten sie denn von meinen Umwegen wissen? Ich verstehe es ja selbst nicht.«
Wir versuchten viele Erklärungen, bezogen sogar die beiden Kommissare mit ein; aber keine war vernünftig, keine war zwingend.
»Was wissen wir jetzt?«, fragte Dr. Hagenbach wie ein routinierter Kriminalhauptkommissar.
»Gut, fassen wir zusammen.« Ich ging auf seinen Ton ein. »Ich wurde zur Tante gelockt«, begann ich, »damit ich Informationen erhielt, für die Franziska ein günstiges Gutachten erreichen wollte.«
»Ja, aber sie war vorsichtig.«
»Ich sollte neugierig, ja, gierig gemacht werden, aber nicht zu viel erfahren, weil sonst die Bestechung nicht mehr möglich wäre.«
»Was wir bis jetzt wissen, ist wichtig, und offenbar steckt –«
»– das Wichtigste mitten darin.« Ich schüttelte den Kopf.
»Aber Sie sehen es nicht.« Dr. Hagenbach war ehrlich enttäuscht.
»Ich fühle mich wie ein Blinder ohne Hund, es ist hoffnungslos, auch wenn ich jedes Wort, an das ich mich erinnere, und das ganze Gespräch rauf und runter abhöre.«
»Gut, die Information ist aber gefallen, und in ihrem Zorn hat das Mädchen Sie stehen lassen. Das heißt doch eigentlich, richtig bedacht, dass es jetzt nichts mehr von Ihnen zu erwarten hat. Alles ist gesagt, und das Gutachten geht ohne Franziska seinen Weg.«
Aber das stimmte nicht. Es war nicht möglich: In einem einzigen Satz konnte nicht die ganze Information enthalten sein, mit der sie mich bestechen wollte. Eine bestimmte, sehr wichtige Information – ja. Aber keineswegs alles.
»Und wenn sie mich doch gesucht hätten im Annaleu, wenn sie den Weg zwischen Huldstetten und Tigerfeld ein ums andere Mal abgefahren hätten, ohne mich zu finden?«
Wenn ich noch nicht alle Informationen hatte, darauf einigten wir uns schließlich, dann würden wir das merken: Franziska würde wieder das Gespräch suchen und uns Wege nennen, die uns zu weiteren Tatsachen führen würden. Zudem blieb uns ja die Tante, die mich zum Wiederkommen eingeladen hatte.
Wir ergingen uns noch lange in Spekulationen, während endlose Zahlenkolonnen auf den Bildschirmen flimmerten, ganz unnütz.
Bis in den Schlaf hinein verfolgte mich die Frage, was wichtiger war – nicht für mich allein, sondern für die Öffentlichkeit –, dass nach zwanzig Jahren ein Verbrechen endlich Aufklärung und ein Mörder seine gerechte Strafe fand, damit die Menschheit von ihm befreit wurde? Oder war die strenge Wissenschaftlichkeit meines Berufes in einer letztlich so unentscheidbaren Sache wichtiger?
Ein Schreiben des Instituts: Die Verfolgung des Projekts Windkraftanlage Ganswinkel in Tigerfeld wurde bis auf Weiteres auf Bitte der Polizei ausgesetzt, die ihre Arbeit behindert sah und weitere Gewalttaten nicht ausschloss, durch den Mord angeheizt, durch die Windkraft angefacht.
Keine Rechner, keine Gutachten, keine Ablenkung durch Arbeit in der nächsten Zeit. Keine Aufgaben für Dr.Hagenbach. Aber er blieb. Ich vermute, dass er seinen Urlaub nahm und ihn hier oben verbrachte. Franziska? Die Landschaft, die dabei war, alle Pracht des Herbstes zu entfalten? Die Aufklärung des Verbrechens? Die Aufklärung der beiden Verbrechen?
Ruhiger Oktober in Tigerfeld.
Im Institut in Stuttgart war man völlig verunsichert. Da meine Situation schwer deutbar war, legte man in einem zweiten Schreiben meine Arbeit nun ganz Dr. Hagenbach in die Hände. Er war jetzt, zwar noch nicht amtlich, aber doch der Sache nach bereits
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