Albspargel
fiel von mir ab wie ein straffes Seil, das an einem Ende plötzlich durchgeschnitten wird.
»Nein«, sagte die Dame mit fester Stimme und hatte sich ganz mir zugewandt, »so meine ich das nicht. Es gibt Zufälle, die erwartet jeder an jeder Straßenecke, und es gibt welche, an die denken wir nicht einmal im Traum. Und dann gibt es welche, bei denen erweist sich, dass es gar keine Zufälle sind.« Ihre Hände waren gefaltet wie in der Kirche. »Der Mörder kannte den Acker«, redete sie weiter, »und er wusste, wem er gehört. Kurz, das tote Mädchen sollte bewusst auf diesem Acker gefunden werden. Davon bin ich so fest überzeugt wie vom Himmelreich. Aber nicht Sie waren der Mörder, Herr Dr. Fideler, die Polizei hat das ja auch keine Sekunde angenommen.«
Bravo, Tante Helene!
Sie sah mich lange an. Ich wusste, sie durfte nicht zu viel verraten, weil Franziska sonst die Felle weggeschwommen wären. Wusste Tante Helene das auch? Hatten die beiden zuvor alles genau verabredet?
»Die Schuhe der Toten wurden nicht auf dem Acker der Familie Fideler gefunden, sondern in einem Loch in der Kiesgrube«, stellte ich fest.
»Und sie wurden nicht von der Polizei gefunden.« Die Stimme der Dame klang kühl. »Und sie wurden auch nicht vom Mörder in die Kiesgrube gelegt. Sie wurden dahin gebracht, als die arme Amelie schon tot war.« Sie redete zum Schluss sehr leise.
»Vielen Dank, Tante Helene, das war sehr nett von dir. Aber wir müssen nun leider gehen. Morgen schellt der Wecker in aller Frühe.« Franziska lächelte, stand auf und sah mich an.
»Ja, was denn, Franziska, wir haben ja noch gar nicht richtig angefangen.« Die Verwunderung, ja Überraschung der Tante war echt.
Franziska musste Zeit gewinnen: Erst das Gutachten, dann die Ware! Ein genau festgelegtes Maß an Information. Den Köder hatte ich geschluckt, ich würde ihn als Zustimmung des Windgutachters in meinem Bericht wieder ausspucken.
Das hieß, Franziska, die jetzt den Mund verkniffen hatte, würde Menge, Qualität und Zeitpunkt der künftigen Informationen selbst bestimmen. Dass sie jetzt so überraschend abbrach, bedeutete, dass die Tante sehr nahe daran war, etwas Wichtiges preiszugeben.
»Sie haben zwanzig Jahre lang Ihre Kenntnisse der Polizei verschwiegen, Frau Strauß«, sagte ich schnell, um den Weggang hinauszuzögern, »woher plötzlich dieser Sinneswandel?«
Sie überlegte, Franziska trippelte ungeduldig hin und her.
»Nun ist eben im selben Zusammenhang ein weiterer Mord geschehen: Eine Freundschaft – zwei Morde! Das ändert alles. Zwei Morde. Es wird Zeit, dass etwas geschieht, höchste Zeit«, sagte sie schlicht. »Zu Ihnen, Herr Dr. Fideler, habe ich Vertrauen. Kommen Sie recht bald wieder.« Ein sehr damenhaftes Lächeln.
Franziska hatte plötzlich ein rotes Gesicht und eine hässliche Falte auf der Stirn. Sie ging rasch zur Tür und zog Jörg mit sich. Ich bedankte mich höflich; Frau Strauß meinte, es gebe noch viel zu berichten.
»Aber die Jugend hat es immer eilig. Da kommen wir Alten nicht immer mit. Es eilt ja nicht.« Sie bot mir die Hand.
Draußen hörte ich einen Motor anspringen. Als sich die Haustüre hinter mir geschlossen hatte, sah ich die Schlusslichter, die sich im nassen Asphalt spiegelten. Dann stand ich allein und buchstäblich im Regen, denn in der Zwischenzeit hatte der Niederschlag eingesetzt, den ich vom Annaleu aus hatte heraufziehen sehen.
Ich konnte es nicht fassen. Warum ließen dieses Weib und Jörg mich stehen? In der Nacht, im Regen! Die Situation war so absurd, dass ich lange brauchte, bis ich wieder einigermaßen klar denken konnte.
Was nun? Die alte Dame, die im Haus geblieben war, wollte ich nicht mehr stören, es war mir peinlich.
Ging es wirklich um die Störung? Ich bin mir darüber nie ganz klar geworden. Heute denke ich eher, dass mir vor der geschlossenen Türe plötzlich bewusst wurde, wie sehr mich die Erinnerungen aufgewühlt hatten. Ich wollte alleine sein.
So machte ich mich wohl oder übel zu Fuß auf den Weg, letztlich verärgert und enttäuscht, ohne Regenschirm, nur meine Regenjacke am Leib, unzureichendes Schuhwerk. Ein Handy fand ich nicht in einer der Taschen. So konnte ich nicht Dr. Hagenbach anrufen, der mich mit seinem Wagen hätte abholen können.
Ich hätte auch über das Telefon von Frau Strauß oder aus dem Gasthof zum
Hirsch
ein Taxi aus Zwiefalten rufen können. Nein, ich machte eine nächtliche Wanderung im Regen. Ich nahm auch nicht den kürzesten und
Weitere Kostenlose Bücher