Albspargel
Stuttgarter Bahnhofs – vor und während der Naziherrschaft Sommersitz der bedeutenden jüdischen Familie Mendelssohn aus Berlin, die nur aufgrund von Vermischungen mit »arischem Blut« knapp der Vernichtung entging.
Warmluft aus Südwest vor der Kaltfront. Der Gutshof lag in der Sonne. Rundum die bunten Buchenwälder. Nach Frostnächten leuchteten sie in einer schwer zu schildernden Pracht. Der Himmel war von einem strahlend hellen Blau. Der Weg neigte sich zwischen Wäldern und Wacholderheiden abwärts. Eine große Kraft ging von dieser Landschaft aus.
Die Sonne war auf der Haut zu spüren, ein warmer, windstiller Tag – nach Rilke ein südlicherer Tag.
»Schön hier«, sagte Dr. Hagenbach.
Ein weißer Schmetterling, letzte weißliche Blüten im gelben Gras, darüber späte Bläulinge. Über den Wäldern des immer tiefer eingeschnittenen Tals mit seinem Dunstschleier erhob sich der Lämmerstein. Hier hatte ich Amelie kennengelernt!
»Hier habe ich Amelie kennengelernt«, sagte ich unvermittelt und wunderte mich – ich gab nicht leicht etwas von meinen Gefühlen preis.
Dr. Hagenbach schien verlegen.
»Dort drüben auf dem Stein hat sie gesessen und sich den Knöchel gehalten.« Ich wühlte in meiner Wunde.
»Es gibt einen Zusammenhang zwischen den beiden Verbrechen, das dürfen wir nicht vergessen«, versuchte Dr. Hagenbach abzulenken.
Ich wollte nicht über Verbrechen reden. Ich wollte erst recht nicht über Amelie reden. Der Teufel hatte mich geritten.
Dr. Hagenbach gab nicht auf. »Es ist nun klar, dass dieser Zusammenhang in einer verwandtschaftlichen Beziehung besteht, die wir herausbringen sollten.«
»Aber wie?«
»Die Leute fragen.« Dr. Hagenbach war Feuer und Flamme.
»Die wissen nichts. Sie hätten es uns schon längst gesagt.« Ich zögerte. »Das ganze Dorf wüsste es. Über nichts anderes würde geredet als über eine solche Verwandtschaft.«
»Sie ist also nicht so offensichtlich. Eine Verwandtschaft der Täter oder der Opfer?«, fragte Dr. Hagenbach.
Eine kluge Frage, aber für uns vorläufig unlösbar.
»Zum Beispiel die Familie Fischer: Wenn die Fischers wissen, dass die Täter verwandt sind –«
»Dann«, fiel ich ihm ins Wort, »dann kennen sie die Täter, und wenn sie die Verbrecher schützen, dann heißt das –«
»Dass die Täter Fischer heißen.«
»Nicht unbedingt«, gab ich zu bedenken, »sie können auch verschwägert sein.«
»Wenn die Fischers die Täter nicht kennen«, redete Dr. Hagenbach weiter, »dann sind es die Opfer, die miteinander verwandt sind.«
Seine Brillengläser funkelten nicht mehr, wenn er von dem Mädchen redete.
»Es können alle miteinander verwandt sein – Täter und Opfer.«
»Das Wichtigste ist die Verwandtschaft. Denn als die Tante sie auch nur angedeutet hat, ist die sonst ja so planvolle Franziska auch schon ausgerastet und hat Sie im Regen stehen lassen«, meinte Dr. Hagenbach.
»Hallo«, es überfiel mich, »es war vielleicht nicht Wut, sondern Panik, dass sie weggerannt ist. Das scheint mir jetzt viel wahrscheinlicher.«
»Namen«, rief Dr. Hagenbach. »Klar, sie hatte Panik, dass Frau Strauß Namen nennen würde, als sie von Verwandtschaft sprach.«
»Die Verwandtschaft der Opfer und damit vielleicht einen Namen«, meinte ich hoffnungsvoll, »können wir wirklich herausfinden. Sie liegt nicht einfach auch der Hand, sonst wüsste es jeder. Aber wenn es sie gibt, dann finden wir sie.«
»Die Verwandtschaft der Täter«, schloss Dr. Hagenbach, »können wir erst erfahren, wenn wir die Täter kennen, gewissermaßen als Zugabe.«
Wir schwiegen und wanderten hinab durch die dunkleren Wälder und die Schlucht, entlang dem klar dahinschießenden Hasenbach und vorbei am Schloss Ehrenfels zur Wimsener Höhle.
Ein schwarzer Spalt unter einem weißgrauen Felsen. Davor ein kleiner Steg als Anlände eines Kahnes, mit dem ein Höhlenfährmann die Touristen in den Quellschlund der Wimsener Aach bringt. Die einzige Höhle in Deutschland, die mit einem Boot befahren werden kann; eine Höhle, die gleichzeitig eine Quelle und ein Bach ist. Über dem Höhlenmund eine Marmortafel, dass ein König von Württemberg diese Höhle befahren hat: »
Grata tuum praesens numen mea nympha salutat. Laetior unda tibi nunc Friderice fluit. MDCCCIII
.« Das klassische Versmaß eines Distichons, übersetzen kann es unter den Zigtausenden von Besuchern kaum einer. Der Fährmann freilich wusste die Übersetzung auswendig und sagte sie auf mit breit
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