Albspargel
sein.«
Draußen, ein paar Dutzend Steinwürfe vom Bus, zog in der gelben Dämmerung das Annaleu mit der Kiesgrube vorüber. Nichts mehr von Sonnenschein und Ferienwetter. Eine flache Nebelschicht kroch aus dem Hasental heraus und begann den Esch zu überziehen.
Ich erinnere mich noch gut, wie in den Fünfzigerjahren im Ort und weit darüber hinaus lange Zeit über den Weißen Sonntag der kleinen Pia geredet worden war.
Die großen Ereignisse im Leben wurden auch in Tigerfeld immer aufwendig begangen: Taufe, Erstkommunion, Firmung, Hochzeit, selbst die Leich, wie man hier oben zur Beerdigung sagt. Es sind dies die Anlässe, zu denen die Verwandtschaft von nah und fern zusammenströmt. Selbst in den kargsten Gegenden der Alb wurde immer gekocht und gebacken, gesotten und gebraten, was Speise- und Räucherkammern hergaben. Und selbstverständlich nahm und hatte das ganze Dorf Anteil an dem jeweiligen Familienereignis.
Weißer Sonntag. Die kleine Pia hatte Erstkommunion. Verwandte aus Reutlingen und Sindelfingen waren schon zwei Tage vorher angereist. Onkel Willy hatte ihr über das Haar gestrichen und war stolz auf sie. Tante Anna hatte sie fest an sich gedrückt und war ebenfalls stolz auf ihre große Pia.
Seit Tagen war das Haus in jedem Winkel gekehrt, gescheuert, gewischt und geschrubbt worden. Blech um Blech hatte man Kuchen, Zöpfe und Kränze gebacken. In der
Krone
waren rechtzeitig Tische bestellt. Links und rechts der Haustüre standen Birkenbäumchen. Kuchen und Gutsle waren auf Tischen aufgereiht, damit jeder sogleich den Aufwand des Festes würdigen konnte. Auf einem anderen Tisch stauten sich bereits Geschenke, darunter die Kienzle-Uhr vom Paten. Seit Wochen war am weißen Kommunionkleid genäht worden, denn in den Fünfzigerjahren wurden die Kleider der Bäuerinnen und Mädchen noch selbst genäht, nachdem die Nähere sie zugeschnitten hatte. Es wurde anprobiert und angepasst, aufgetrennt, geheftet und zusammengenäht. Schließlich saß das Kleid, und die kleine Pia war ein wunderschönes Bräutchen. Alle sagten es.
Pia war nicht wenig stolz in ihrer blutroten Verlegenheit, dass sie vor allen Leuten ein so schönes Kleid tragen durfte. Am Tag zuvor war sie bei der Beichte gewesen und hatte ihre Sünden bekannt und bereut, so dass sie nicht nur in dem neuen Kommunionkleid, sondern auch mit frisch gewaschenem Seelenkleid zum Tisch des Herrn gehen würde. So war es ihr im Erstkommunionunterricht versichert worden. Das druckfrische Gesangbuch mit Goldschnitt und der neue Rosenkranz aus Perlmutt, die Glieder versilbert, Geschenke der Patin und der Oma, lagen zum Kirchgang bereit.
Der Zug der Kommunionkinder in das Gotteshaus, die Reihenfolge in den Bänken, der Gang zur Kommunionbank, die Lieder, die gemeinsamen Gebete. Das alles war hundertmal geübt und geprobt worden.
Die Verwandtschaft aus den umliegenden Dörfern war bereits am frühen Morgen zur Tigerfelder Kirche aufgebrochen.
Die Haare waren gewaschen, abgerieben, ausgebürstet und gekämmt und wieder gekämmt, und in einer halben Stunde würde mit dem vollen Geläut der Glocken das Kirchenfest beginnen in der überfüllten Barockkirche mit den goldenen Altären und den sonnendurchfluteten silbernen Weihrauchschwaden.
Kritisch wurde das immer aufgeregtere Kind von der Mutter wieder und wieder gemustert, dort wurde ein Fältchen glattgedrückt, da ein Härchen aus der Stirn gestrichen. Denn was würden die Leute sagen, wenn nicht alles bis aufs allerletzte Tüpfelchen stimmte!
Das Kind aber, sah die Mutter mit Schrecken, hatte offenbar eine geschwollene Backe. Der Wochendippel? Mumps wäre für die kleine Pia das Ende des Festes, denn er war gefürchtet, und so müsste das Erste Abendmahl für sie verschoben werden.
»Was hast du denn da im Gesicht? Pia, was ist los mit dir? Tut dir etwas weh? Ist es ein Zahn?«, fragte die Mutter besorgt.
Das Kommunionkind wurde feuerrot bis unter die Haarwurzeln, und die Mutter sah erstaunt die Schwellung wandern, von der rechten zur linken Backe.
»Mund auf!«, befahl sie zornig.
Dann fuhr auch schon ihr Daumen in den Mund der Tochter und förderte ein angeschlotztes Gutsle zutage. Und schon saß der kleinen Braut Christi eine klatschende Ohrfeige im Gesicht und dann noch eine und noch eine. Das Geschrei der Mutter verstummte erst, als ihr bewusst wurde, dass jemand sie hören und die Schande ans Licht kommen könnte.
Was nun? Das Gewissen der Mutter schlug. Das Kind hatte der Verlockung nicht
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