Albtraum
die der Kanzlei. Er hatte sie aufgefordert, ihre persönlichen Sachen vor Dienstbeginn am Montagmorgen aus der Kanzlei zu räumen. Als Geste gegenüber Kate werde man ihr zahlen, was ihr noch zustehe.
Offensichtlich war auch er über sie und Richard im Bilde gewesen.
In dem Moment blickte Sandy zu ihr hin. Die Andeutung eines triumphierenden Lächelns zuckte um ihren Mund. Julianna wusste, was sie bisher nur vermutet hatte. Sandy hatteihre Affäre mit Richard herumposaunt und aus Rache vermutlich noch schmutzige Details dazu erfunden.
Sie schlang die Arme um sich, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sandy und all die anderen verstanden eben nicht, dass sie und Richard nicht nur eine Affäre gehabt hatten, sondern füreinander bestimmt gewesen waren. Seelenverwandte eben.
Um Fassung ringend, schlang sie die Arme noch fester um sich. Sie hatte nichts mehr, keinen Geliebten, keinen Job – ihr Blick wanderte zu Kate, die Emma auf dem Arm hielt – kein Baby.
In diesem Moment sehnte sie sich so sehr danach, ihr Kind zu halten, dass ihr Herz und Arme schmerzten. Wenn sie sie doch an sich drücken könnte, wie Kate es tat, die anscheinend Kraft und Trost aus ihrer Liebe zu dem kleinen Wesen schöpfte. Mit Emma wäre sie nie mehr allein und nie mehr ungeliebt gewesen. Doch sie hatte nichts und niemand.
Nein, das stimmte nicht. Irgendwo da draußen wartete John auf sie. Seit der obszönen Nachricht, die er in ihrem Bett hinterlassen hatte, wusste sie, dass er in der Nähe war und sie belauerte.
Nach der Beisetzung fand in Richards Elternhaus ein kleiner Empfang für Freunde und Verwandte statt. Julianna nahm daran nicht teil. Sie fuhr ziellos durch die Stadt und dann nach Mandeville zurück. Unterwegs überlegte sie, was sie jetzt tun sollte.
Sie hatte sich in falscher Sicherheit gewiegt, das war ihr inzwischen klar. Sie hatte geglaubt, Richard könne sie vor John beschützen, doch Richard war tot. Vor John gab es keinen Schutz, sondern nur die Flucht. Sie hätte längst abhauen müssen, aber sie war bis zur Beerdigung geblieben, weil sie glaubte, es Richard schuldig zu sein.
Als sie zu Hause an kam, sank die Sonne bereits. Die Feuchtigkeit des Tages verlieh der Abendkühle eine Schärfe, die ihr bis in die Knochen drang. Los Angeles, dachte sie, als sie aus dem Wagen stieg und zur Veranda ging. Palmen, Seewind, angenehme Temperaturen. Zweifellos konnte sie in einer Stadt von der Größe L.A.s untertauchen.
Sie schloss die Tür auf, trat in die Wohnung ein und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Der Schreckensschrei, den sie ausstoßen wollte, mutierte zu einem strangulierten Wimmern. John saß in einem Lehnstuhl gegenüber der Tür, eine Waffe im Schoß.
Er lächelte freudlos. In dem Moment wusste Julianna, dass er Richard umgebracht hatte, und dass sie sein nächstes Opfer werden würde.
„Hallo, Julianna.“
Instinktiv wich sie einen Schritt zurück und griff hinter sich nach dem Türknauf. Ihr war jedoch klar, dass John sie niemals entkommen lassen würde.
Er wedelte mit der Waffe. „Geh bitte weg von der Tür. Schließlich wollen wir doch die Nachbarn nicht stören.“
Sie tat, was er verlangte. Ihr Herz pochte so wild, dass sie kaum noch Luft bekam.
„Was ist, meine Süße? Bist du nicht froh, mich zu sehen?“ Er lächelte wieder. „Du kannst nicht überrascht sein. Ich bin sicher, du hast mein Geschenk erhalten.“
„Du … hast Richard … ermordet.“
„Habe ich. Er hat genommen, was mir gehörte, Julianna. Das war inakzeptabel.“ Er winkte sie heran. „Komm her.“
Sie folgte seiner Aufforderung mit tränenfeuchten Augen. Ihre Beine trugen sie kaum vorwärts vor Angst. Mit gesenktem Kopf blieb sie vor John stehen.
„Sieh mich an, Julianna.“ Sie hob den Blick. „Ich möchte, dass du dich hinkniest.“
Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wollte nicht kniend sterben, tat aber wie befohlen und fragte sich, wann die Kugel sie treffen würde, ob der Tod gnädig rasch oder qualvoll langsam eintrat.
John stand auf. „Ich bin enttäuscht von dir, sehr enttäuscht.“ Er senkte die Stimme. „Nach allem, was ich dir über Liebe, Treue und Verantwortung beigebracht habe, tust du so etwas? Verrätst du mich so?“
„Tut mir Leid“, flüsterte sie. „Es tut mir so Leid.“
Er schüttelte den Kopf. „Das reicht nicht. Du warst ungehorsam. Du hast mir etwas gestohlen. Du hast mir meine Liebe vor die Füße geworfen. Was glaubst du wohl, wie ich mich dabei
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