Alcatraz und die dunkle Bibliothek
nahm seine Linsen ab. »Zweifelsohne wollen sie uns alle umbringen.«
»Richtig«, sagte ich. »Sollten wir dann nicht … untertauchen oder so etwas? Und nicht hier auf der Straße rumstehen, wo uns jeder sehen kann?«
»Nun ja, dann sag mir doch mal: Dieser Mann mit der Pistole – hattest du den vorher schon einmal gesehen?«
»Nein.«
»Hat er dich denn erkannt?«
»Nein, eigentlich nicht«, meinte ich. »Er hat gefragt, wer ich bin, bevor er versucht hat, mich zu erschießen.«
»Ganz genau«, bestätigte Grandpa Smedry und schlenderte zu einem der Fenster, um in das Innere der Bibliothek zu spähen. »Du bist eine besondere Persönlichkeit, Alcatraz. Und deswegen vermute ich, dass diejenigen, die dich beobachtet haben, nicht wollten, dass ihre Gleichgesinnten wissen, wo du dich aufhältst. Es mag dich überraschen, aber in den Reihen der Bibliothekare gibt es viele verschiedene Fraktionen. Die Dunklen Okulatoren, den Orden der Geborstenen Linse, die Gebeine des Schreibers … und auch wenn sie zusammenarbeiten, herrscht zwischen ihnen doch eine ziemliche Rivalität.
Für die Fraktion, die dich überwacht hat, war es also nur von Vorteil, wenn möglichst wenige wussten, wer du bist – oder dich wiedererkennen konnten. So war es einfacher für sie, die Kontrolle über den Sand zu behalten, als er eintraf.« Er senkte die Stimme. »Ich werde dich nicht anlügen, Alcatraz. Diese Mission ist gefährlich. Wenn die Bibliothekare uns erwischen, werden sie uns höchstwahrscheinlich töten. Jetzt, wo sie den Sand haben, gibt es für sie keinen Grund mehr, dich am Leben zu lassen – ganz im Gegenteil, es ist besser für sie, wenn sie dich auslöschen. Aber es gibt drei Dinge, die es uns leichter machen. Erstens: Nur sehr wenige von ihnen werden in der Lage sein, uns zu erkennen. Dadurch sollten wir es in die Bibliothek schaffen, ohne aufgehalten zu werden. Zweitens sind – wie dir vielleicht aufgefallen ist – die meisten Bibliothekare derzeit nicht in der Bibliothek. Wenn du mich fragst, sind sie gerade auf der Suche nach uns beiden und versuchen am Ende sogar, in unser Versteck in der Tankstelle einzudringen.«
»Und was ist das Dritte, was uns helfen soll?«
Grandpa Smedry grinste. »Niemand rechnet damit, dass wir so etwas versuchen könnten! Schließlich ist diese Aktion absolut wahnsinnig!«
Na großartig.
»Aber vielleicht solltest du deine Okulatorenlinsen abnehmen«, meinte er noch. »Das ist das Einzige, was dich im Augenblick ein wenig verdächtig wirken lässt.«
Hastig befolgte ich seinen Rat.
»Quentin wird für ungefähr fünf Minuten in der Eingangshalle und zwischen den inneren Regalreihen unterwegs sein und ausspionieren, ob es Auffälligkeiten in den Routineabläufen und Sicherheitsmaßnahmen der Bibliothekare gibt. Das bedeutet, dass wir noch ein wenig hierbleiben werden. Versuch beim Warten nicht zu sehr aufzufallen.«
Ich nickte, und Grandpa Smedry schlenderte weiter, um durch ein anderes Fenster zu sehen. Um einen bewusst entspannten Eindruck zu machen, versuchte ich, mich gegen einen Laternenpfahl zu lehnen und diesen dabei möglichst nicht zu beschädigen. Es war nicht ganz einfach, die Ruhe zu bewahren, da ich mir immer größere Sorgen machte. Je länger ich darüber nachdachte, umso weniger schienen die drei Dinge, von denen Grandpa Smedry gesprochen hatte, tatsächlich ein Vorteil für uns zu sein. Ich gab mir alle Mühe, mich zu beruhigen.
Einen Moment später hörte ich ein Scheppern hinter mir, als Sing seine mit Waffen bestückte Sporttasche abstellte. Ich zuckte nervös zusammen und behielt die Tasche sorgsam im Auge – die Vorstellung, durch eine der »antiken« Waffen vielleicht einen Zeh zu verlieren, war nicht gerade angenehm.
»Alcatraz!« Sings Stimme klang aufgeregt. »Dein Großvater hat mir erzählt, dass du hier in den Ländern des Schweigens aufgewachsen bist!«
»Äh, ja, das stimmt«, sagte ich vorsichtig.
»Das ist ja fantastisch! Dann sag mir doch bitte: Welche Funktion hat das hier?« Er streckte mir ein kleines gelbes Ding entgegen, das er wahrscheinlich im Rinnstein gefunden hatte.
»Na ja, das ist ein Flaschenverschluss«, stellte ich fest.
»Richtig«, nickte Sing und musterte das Ding durch seine dunklen Brillengläser. »Ich kenne die primitiven Methoden, mit denen ihr Flüssigkeiten verpackt. Aber sieh doch mal hier, was ist das da an der Unterseite?«
Ich nahm den Verschluss entgegen. Auf der Unterseite war das Wort NIETE
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