Alcatraz und die dunkle Bibliothek
eingeprägt.
»Hast du das gelesen?«, vergewisserte sich Sing und deutete mit seinem fleischigen Finger darauf. »Ist das in den Ländern des Schweigens so Brauch, dass man Beleidigungen auf Lebensmittel druckt? Oder ist es eine Werbekampagne? Aber wo liegt dann der Sinn? Soll sich der Verbraucher dadurch verunsichert fühlen, sodass er daraufhin noch mehr koffeinhaltige Getränke kauft?«
»Das ist nur ein Gewinnspiel«, versuchte ich zu erklären. »Einige der Flaschen gewinnen, andere nicht.«
Sing runzelte angestrengt die Stirn. »Warum sollte eine Flasche etwas gewinnen wollen? Und überhaupt, wie sollen die Flaschen denn ihren Preis in Anspruch nehmen können? Oder sind das etwa Belebte? Wisst ihr Leute denn nicht, dass Belebung zur dunklen Okularie gehört?«
Ich rollte hilflos mit den Augen. »Hier ist keine Okularie im Spiel, Sing. Wenn du die Flasche öffnest und auf dem Deckel steht, dass du gewonnen hast, dann bekommst du einen Preis.«
»Oh.« Er schien ein wenig enttäuscht zu sein, aber er verstaute den Flaschendeckel trotzdem sorgfältig in einer kleinen Tasche an seinem Bauch.
»Warum interessierst du dich dafür? Ich dachte, du wärst Experte für antike Waffen?«
»Na ja, für antike Waffen, antike Kleidung und antike Kultur.«
Das verwirrte mich.
»Er ist ein Anthropologe, Junge«, schaltete sich Grandpa Smedry ein, ohne seine Stellung am Fenster aufzugeben. »Und zwar einer der bekanntesten Vertreter seiner Fachrichtung an der Königlichen Universität von Mokia. Deshalb ist er ja auch in unserem Team.«
»Moment mal«, unterbrach ich ihn. »Er ist ein Professor?«
»Natürlich, wer sonst sollte mit diesen verdammten Waffen umgehen können? In der zivilisierten Welt hat man die Dinger bereits vor Jahrhunderten abgeschafft! Wir dachten, wir könnten jemanden gebrauchen, der weiß, wie man sie gebraucht – Schwerter wären zwar effektiver, aber in den Ländern des Schweigens werden sie ja nicht getragen. Und es ist einfach besser, jemanden im Team zu haben, der sich mit den hier üblichen Waffen auskennt, nur um sicherzugehen.«
Sing nickte eifrig. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich mag ja kein Soldat sein, aber ich habe ziemlich viel mit den Waffen geübt. Ich … habe zwar noch nie auf ein bewegliches Ziel geschossen, aber wie schwer kann das schon sein?«
Das verschlug mir erst mal die Sprache. Dann wandte ich mich an Grandpa Smedry: »Und was ist mit Quentin? Ist er auch ein Professor?«
Sing lachte. »O nein, er hat gerade erst seinen Abschluss gemacht.«
»Aber er ist ziemlich gut auf seinem Gebiet«, betonte Grandpa Smedry. »Er ist Experte für Sprachen und hat sich auf die Dialekte spezialisiert, die in den Ländern des Schweigens gesprochen werden.«
»Okay, nur damit ich das richtig verstehe: Unser Team besteht also aus einem geistig verwirrten alten Mann, einem Anthropologen, einem Universitätsabsolventen und zwei Kindern.«
Grandpa Smedry und Sing nickten fröhlich. Bastille, die neben uns an der Mauer lehnte, warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Ist dir jetzt klar, womit ich es täglich zu tun habe?«
Ich nickte – langsam verstand ich, warum sie so schlecht drauf war.
»Ach, stellt euch doch nicht so an«, meinte Grandpa Smedry. Er kam zu mir, legte mir einen Arm um die Schultern und zog mich ein wenig zur Seite, weg von den anderen. »Pass auf, Junge, ich habe hier ein paar Sachen, die ich dir geben wollte.«
Er öffnete sein Jackett und zog zwei Brillen hervor. »Diese hier kennst du schon«, erklärte er, als er die mit den gelblichen Gläsern hochhielt. »Ich habe sie benutzt, als ich dich bei deinen Pflegeeltern abgeholt habe. Diese Linsen sind relativ einfach in der Handhabung – wenn du schon solche Sichtungen vornehmen kannst wie hier an der Bibliothek, sollten sie dir keine Probleme bereiten.«
Ich nahm die Brille entgegen und setzte sie möglichst verstohlen auf. Zunächst passierte nichts – aber dann glaubte ich, etwas zu sehen. Auf dem Boden erschienen Fußspuren in den verschiedensten Farben, die, noch während ich hinsah, langsam verblassten.
»Spuren«, stellte ich verblüfft fest und beobachtete, wie Sing zu einer anderen Stelle des Rinnsteins wanderte und dabei auf den Steinen eine Reihe von blauen Fußabdrücken hinterließ.
»Ganz recht, mein Junge. Je besser du jemanden kennst, desto länger werden die Spuren sichtbar bleiben. Wenn wir erst mal drin sind, werden wir uns aufteilen. Du und ich sind die einzigen Okulatoren
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