Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
seinem ungeduldigen Gesichtsausdruck schloß Alejandro, daß der Mann, der die widerspenstige Menge mit offener Mißbilligung musterte, daran gewöhnt war, beachtet zu werden, und zwar sogleich. Seine intelligenten, scharf blickenden Augen, die über einer langen, spitzen Nase dicht beieinander lagen, wan- derten von Mann zu Mann; sie verweilten einen Augenblick bei Alejandro, und die beiden Ärzte starrten sich sekundenlang an. Mit der Andeutung eines Lächelns wandte der Mann in dem roten Gewand sich dann wieder ab, nickte einem der Stabträger zu, und dieser stieß seinen Stab laut auf den Boden; die überraschten Wartenden stellten augenblicklich ihr Geflüster ein. Der große Mann räusperte sich und begann zu sprechen.
»Sind irgendwelche Juden unter Euch? Wenn ja, sollen sie vortreten.«
Angst ergriff Alejandro. Haben die spanischen Soldaten Avignon ereicht? Werde ich jetzt entdeckt? Ängstlich sah er sich um, was die anderen Männer im Raum taten. Warum ruft dieser Mann nur die anwesenden Juden auf? Er hatte kein Wort darüber gehört, daß das päpstliche Edikt, welches die Juden schützte, widerrufen worden wäre. Er versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen, während er in dem Raum voller Fremder stand, mußte sich aber Mühe geben, sein Zittern zu verbergen; er wußte, wenn man ihn eingehender nach seiner Herkunft fragen würde, würde er mit Sicherheit die Fassung verlieren und sich verraten.
Erschrocken beobachtete er, wie die Juden einer nach dem anderen vortraten; einige hatten gelbe Kreise auf die Ärmel ihrer Kleidung genäht; sie hatten keine Wahl. Sie sammelten sich in einer Gruppe und erwarteten nervös ihr unbekanntes Schicksal. Alejandro bemerkte die Furcht in ihren Augen, aber auch den stolzen Trotz; er schämte sich seiner eigenen Feigheit.
Der große Mann in Rot betrachtete die Gruppe verächtlich. »Ihr seid entlassen«, sagte er.
Die Juden sahen einander ungläubig an, und auf ihren zuvor ängstlichen Gesichtern zeichnete sich Erleichterung ab. Rasch wandten sich alle zur Tür und eilten hinaus, verblüfft über ihr Glück.
Es war zu spät, sich ihnen anzuschließen. Zerknirscht sah Alejandro zu, wie sie aus dem Raum verschwanden. Der große Mann gab den übrigen Anwesenden ein Zeichen, sich zu setzen, und sie schauten sich nach einem angemessenen Platz um. Zu Alejandros Überraschung wurden sie zu einer Reihe luxuriös gepolsterter Stühle gewiesen, die er zuvor schon bewundert hatte.
Nachdem alle Platz genommen hatten, setzte sich der Mann in Rot auf einen prachtvoll vergoldeten Stuhl, der auf einem erhöhten Podest stand. »Gelehrte Ärzte und Kollegen«, begann er, »ich bin Guy de Chauliac, und es ist mir eine große Ehre, Leibarzt seiner Heiligkeit Clemens VI. zu sein. Heute handle ich im Auftrag seiner Heiligkeit, der Eure Dienste in einer Angelegenheit von höchster Wichtigkeit für die Heilige Kirche und das Königreich Frankreich verlangt.
Wie Ihr alle zweifellos wißt, werden wir von einer schrecklichen, verheerenden Seuche heimgesucht; man berichtet, daß inzwischen ganz Europa von dieser Geißel ergriffen ist und jeden Tag Tausende umkommen. Die Nachrichten aus anderen Ländern sind ebenso düster wie die, die wir zu versenden hätten. Unser geliebter Bruder, Edward III. von England, hat uns von der Ankunft der Pest an seinen Ufern geschrieben, und wir betrauern deshalb das Hinscheiden des Erzbischofs von Canterbury.
König Edward selbst hat den Tod seiner Tochter Joanna zu beklagen, die zur Vermählung mit dem Königshaus von Kastilien unterwegs war, als sie grausam von der Pestilenz dahingerafft wurde.«
Die junge Edelfrau auf ihrer Brautreise nach Kastilien ! Alejandro erinnerte sich an die cantina, wo er auf seiner Reise nach Avignon zum ersten Mal von der Geschichte erfahren hatte.
»Seine Heiligkeit hegt große Achtung und Zuneigung zum englischen Königshaus und erkennt dessen Bedeutung für die Aufrechterhaltung der politischen Stabilität in Europa an. Trotz des Grolls, der augenblicklich zwischen unseren beiden Ländern herrscht, wünscht seine Heiligkeit die edlen Führer Frankreichs und Englands zu ermutigen, ihre Differenzen beizulegen und die Allianzen weiter zu fördern, die für die Wiederkehr von Frieden und Wohlstand so wesentlich sind. England muß sich unbedingt mit den anderen Adelshäusern Europas verbünden. Wenn die Königshäuser dezimiert würden, würde dies schwerwiegende Folgen für die Ordnung unserer Welt haben, und das
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