Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
...«
»Es kommt noch schlimmer«, sagte sie. Tränen liefen jetzt über ihre Wangen. »Ich ließ einen Gedenkgottesdienst abhalten; es gab keine Leichen, die ich begraben konnte, aber ich brauchte irgendeinen Abschluß, das Gefühl, das getan zu haben, was man eben tut, wenn jemand stirbt. Meine Eltern kamen; sie waren in Pennsylvania, als es passierte, und so fuhren sie los, um bei mir zu sein und an dem Gottesdienst teilzunehmen. Unterwegs hielten sie bei einer Raststätte auf dem Jersey Turnpike, um etwas zu essen .«
Sie unterdrückte ein trunkenes Schluchzen, und Bruce sagte: »Und dort infizierten sie sich?«
Sie nickte rasch und kniff die Augen zu. Ströme von Tränen liefen ihr über die Wangen und tropf- ten auf ihren Arm, auf Bruces Hand, auf die Tischdecke. »Oh, Gott ...« sagte sie. »Schauen Sie mich nur an. Schon wieder undicht.«
Unwillkürlich mußte Bruce schmunzeln. »Vielleicht muß ich Sie wegen unerlaubter Freisetzung von Körperflüssigkeiten in der Öffentlichkeit melden .«
Janie wischte sich mit der Hand die Augen, schniefte kurz und sagte: »Gut, daß das in den Staaten nicht illegal ist. Sonst säße ich schon im Gefängnis.«
Bruce stand von seinem Stuhl auf, ging um den Tisch herum und stellte sich hinter Janie; ohne um Erlaubnis zu fragen, nahm er sie von hinten in die Arme und legte sein Kinn auf ihre Schulter. So hielt er sie zärtlich umfaßt, während sie lautlos weinte. Sie wehrte sich nicht gegen seinen Versuch, sie zu trösten.
Ringsum starrten die Leute sie an; sie waren leise gewesen, doch Bruces abruptes Aufstehen hatte bewirkt, daß sich alle Köpfe nach ihnen umdrehten. Janie sah nicht, welche Aufmerksamkeit sie erregten; Bruce wollte nicht, daß sie es sah. Er blickte in die Runde und schaute alle Neugierigen mit einem Blick an, der besagte: Bitte, nicht starren ... Nach und nach verwandelten sich die verächtlichen Blicke in mitfühlende.
Nach ein paar Minuten hob Janie eine Hand und tätschelte seinen Arm zum Zeichen, daß er sie loslassen sollte. Er begriff sofort und zog sich zurück. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl.
Mit roten, verschwollenen Augen sah sie ihn an und sagte zu ihrer eigenen Überraschung: »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut sich das anfühlte. Danke, vielen Dank.«
»Gern geschehen. Jederzeit. Ich weiß nicht, ob ich all das durchgestanden hätte, was Sie durchgemacht haben. Es ist sehr tapfer von Ihnen, daß Sie so schnell ins Leben zurückgekehrt sind.«
»Na ja, nach so etwas wird man ziemlich hart. Eine Zeitlang war ich danach wirklich sehr hart. Ich fühlte mich wie jemand, dem man die Eingeweide aus dem Leib gerissen hat, und ich habe seither immer versucht, sie irgendwie wieder zurückzuschaufeln.«
Ein paar Augenblicke saßen sie schweigend da, während Janie sich die Augen trocknete; die Stille im Raum wurde nur durch die Gespräche an den Nachbartischen unterbrochen. Bruce winkte den Kellner weg, der mit einer neuen Flasche Wein näher kam. Nach einer angemessenen Pause sagte er: »Ursprünglich hatte ich gedacht, wir könnten zum Essen anderswo hingehen, aber vielleicht sollten wir einfach bleiben.«
»Schon wieder Essen«, sagte sie. »Anscheinend ist uns beschieden, jedesmal zu essen, wenn wir uns sehen. Ich weiß nicht, ob ich nüchtern genug bin, um die Speisekarte zu lesen.«
»Ich kann für uns beide bestellen.«
Sie streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf seine. »Wie nett Sie heute sind. Bestellen Sie, was Sie wollen, nur keine Schnecken«, sagte sie undeutlich. »Ich hasse diese Dinger.« Sie verharrte in trunkenem Schweigen, während der kluge und bedächtige Erwachsene, der sich im Körper des einst eher rücksichtslosen Bruce breitgemacht hatte, verschiedene Gerichte bestellte, in denen keine Schnecken vorkamen.
Die Speisen wurden sehr bald serviert, und während sie aß, wurde Janie langsam wieder nüchtern. Etwas verärgert fragte sie sich, wie Bruce so nüchtern hatte bleiben können, während sie völlig betrunken geworden war. Doch im Laufe des Abends hellte ihre Stimmung sich etwas auf, und das Gespräch wandte sich anderen Details ihres Lebens zu. Das Gift der Trauer wich langsam, und nach dem Essen fühlte Janie sich unerwartet wohl in Bruces Gesellschaft.
Als sie durch die Halle zu den Aufzügen gingen, spürte Janie noch immer die Nachwirkungen ihres kurzen, aber intensiven Kontakts. In ihrem gelösten Zustand hatte sich die Wärme seiner attraktiven männlichen Gegenwart einen Weg in
Weitere Kostenlose Bücher