Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
beunruhigen.
Das Gespräch wandte sich den Neuigkeiten aus Europa zu, und alle spitzten die Ohren, als Alejandro von seiner Reise aus Avignon erzählte. Er war dankbar für die Gelegenheit zu sprechen, denn sein Kopf dröhnte von der Anstrengung, den Gesprächen am Tisch zu lauschen, die in zwei ihm fremden Sprachen geführt wurden. Er berichtete den Anwesenden von seiner Begegnung mit den abstoßenden Flagellanten und ihrem barbarischen Angriff auf die Reisegesellschaft; sehr bekümmert erzählte er vom Tod der päpstlichen Garden. Die Zuhörer schwiegen aufmerksam; alle waren in ihre eigenen Gedanken über Europas traurige Situation versunken.
Der Prinz von Wales bemerkte die düstere Stimmung und gab der Unterhaltung geschickt eine andere Wendung. »Wie kam es, daß Ihr in Frankreich wart, fern von Eurem heimatlichen Spanien, und dort die Aufmerksamkeit des päpstlichen Leibarztes erregtet?«
Alejandro dehnte die Wahrheit ein wenig. »Ich erhielt meine medizinische Ausbildung in Montpellier. Alle ausgebildeten Ärzte in der Gegend um Avignon wurden aufgefordert, sich beim Leibarzt des Papstes zu melden, und dieser traf seine Auswahl unter uns, nachdem er sich unsere Fertigkeiten angesehen hatte. Doktor de Chauliac unterwies diejenigen, die für das Ausland ausgewählt wur- den, in seinen besonderen Techniken zum Schutz des Papstes.«
Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu; von den meisten verstand Alejandro nichts. Ein Musiker spielte leise auf einer Harfe, während ein Narr zu der fröhlichen Weise seine Kapriolen schlug und alle entzückte, besonders ein kleines Mädchen, das auf der anderen Seite der Prinzessin saß. Ihr perlendes Gelächter war reizend und ihre überschäumende Fröhlichkeit ansteckend. Ich wünschte, es wäre so ansteckend wie die Seuche, dachte Alejandro.
Obwohl die königliche Familie ein Mitglied durch die Pest verloren hatte, wirkten die Anwesenden weitgehend unberührt von den grausamen Geschehnissen in der übrigen Welt. Nur die Königin hatte den vielsagenden Ausdruck von Trauer und Verlust, der im übrigen Europa so weit verbreitet war. Ansonsten herrschte hier echte Fröhlichkeit; die Herren waren kräftig und robust, die Damen anmutig und charmant. In diesem Schloß herrschte eine geheimnisvolle Immunität gegen die Folgen der Seuche, und Alejandro fand die Gesellschaft sehr vom Glück begünstigt. Er beschloß, sein Bestes zu tun, um ihnen ihre Zufriedenheit zu erhalten.
10
Trotz des Kloßes in seinem Magen von dem großen Stück Hammelfleisch, das er bereits verzehrt hatte, gelang es Robert Sarin, noch einen Bissen zu essen. Dann lehnte er sich zurück und stieß einen lauten, zufriedenen Rülpser aus. Er war überrascht und erfreut über die plötzliche und unerklärliche Zunahme seines Appetits. Er rieb sich mit den Händen den vorstehenden Bauch, während der Hund neben ihm saß, mit dem Schwanz wedelte, ein wenig jaulte und um etwas von den Resten auf dem Teller seines Herrn bettelte. Der alte Mann lächelte und tat seinem Gefährten den Gefallen, indem er ihm auf der offenen Handfläche einen ordentlichen Batzen Fett darbot. Der Hund nahm ihn, ohne dabei Sarins Haut zu berühren, und schluckte den Bissen in einem Stück hinunter. Sarin bewegte seine fettige Hand nicht, und der Hund leckte sie sauber.
Da Sarin im Innersten wußte, daß er diese und alle anderen Empfindungen nicht mehr allzu oft erleben würde, gestattete er sich, das leise Kitzeln der feuchten Hundezunge in seiner schwieligen Handfläche zu genießen. Er lernte gerade, sich an jedem angenehmen Gefühl zu erfreuen, das seines Weges kam, und verweilte bei jedem seiner eigenen Gedanken, als sei er ein großes philosophisches Geschenk.
Er fand es merkwürdig, daß Furcht ihm ein solches Gefühl von Lebendigkeit einflößte. Jetzt, da er sich der Aufgabe widmete, sich auf das vorzubereiten, was vor ihm lag, fühlte er sich vitaler als seit vielen Jahren, als sei binnen weniger Tage ein Jahrzehnt des Alterns von ihm abgefallen. Er atmete leichter und er ging schwungvoller. Er war draußen im Garten seiner Mutter gewesen und hatte ihn in Ordnung gebracht, besser in Ordnung, als er in den vielen Jahren seit ihrem Tod gewesen war. Er liebte den Geruch der üppigen schwarzen Erde seit jeher; er war so fruchtbar, so feucht und würzig, wie er sich den Geruch einer Frau vorstellte.
Jeden Tag schaute er in das Buch seiner Mutter und prägte sich die Rituale genauer ein. Wäre doch sein Gedächtnis schon
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