Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
früher so gut gewesen! Die Macht, Dinge zu wissen und dann noch mehr zu lernen, berauschte ihn förmlich; er wußte, bald würde eine Zeit kommen, da er das Gelernte würde anwenden müssen, und er war aufgeregter als jemals in seinem Leben. Wäre sie doch noch am Leben und könnte das sehen, dachte er traurig.
Als er seine Mahlzeit ein wenig verdaut hatte, stand er aus seinem Sessel auf, um Arme und Beine zu strecken. Im Haus roch es wundervoll, und Sarin wurde ständig von Erinnerungen an seine Mutter überflutet, da seine Umgebung jetzt wieder so war wie damals, als seine Mutter noch im vollen Besitz ihrer Kräfte gewesen war. Er rief den Hund; das große, struppige Tier kehrte zu ihm zurück und ließ mit einem breiten Hundegrinsen seine rosa Zunge heraushängen. Sarin tätschelte ihm den Kopf und sagte: »Manchmal fühlt es sich an, als wäre sie gar nicht wirklich tot.« Der Hund wedelte zustimmend mit dem Schwanz und jaulte leise.
»Es ist, als wäre sie noch da und würde mir helfen«, sagte Sarin. Er hatte viel Zeit darauf verwendet, die Dinge in Ordnung zu bringen, und dabei dauernd das Gefühl gehabt, sie blicke ihm beschützend über die Schulter, während er alles instand setzte. Erst als er mit allem fertig war, wurde ihm klar, wie sehr er die Dinge hatte schleifen lassen.
Er wußte, seine Mutter hatte darum gebeten, die Aufgabe möge noch während ihrer Zeit als Wärterin kommen. So sorgfältig sie ihn, ihr einziges Kind, auch unterwiesen hatte, sie hatte niemals geglaubt, daß er bereit sein würde, wenn sie sich zu seiner Zeit stellte. »Ich hätte es wissen sollen«, hatte sie bitter gesagt, als sie dem Tod nahe war. »Ich hätte es wissen sollen, daß ich einen Sohn haben würde.« Und sie hatte recht, dachte er, denn er war seit mehreren Jahrhunderten der erste männliche Nachkomme einer direkten Linie tüchtiger Frauen. Jede Tochter hatte aufgrund eines alten und streng beachteten Rituals wieder eine Tochter geboren und dem Kind ihren eigenen Namen gegeben.
Aber sie hatte ihm gesagt, daß er der Liebe entsprungen war und nicht einem Ritual. Er dachte, daß seine Mutter entsetzt gewesen sein mußte, als sie zwischen ihre blutigen Schenkel schaute und dort das kleine, runzlige Ding erblickte, das sie nach langen und heftigen Wehen zur Welt gebracht hatte. Er fragte sich, ob sie in Panik geraten war und geweint hatte oder, was die furchtbarste Vorstellung war, ob sie daran gedacht hatte, sich seiner zu entledigen. Er konnte ihren Trotz im Augenblick der Entscheidung fast spüren, ihre Weigerung, das zu tun, was Tradition und Bräuche von ihr verlangten; sie war ein zorniges junges Ding, das mit einem unvollkommenen Baby kämpfte und sechshundert Jahren Willfährigkeit ihrer Ahninnen mit der Faust drohte. Als die Zeit verging und ihr Trotz sich auflöste, hatte er ihre Reue gespürt. »Ich wußte, was von mir verlangt wurde«, hatte sie ihm einmal gesagt, »und ich habe es nicht getan. Daran ist keiner schuld außer mir selbst.« Und von da an richtete sie sich nach dem, was von ihr verlangt wurde, in allem, nur nicht in der Fürsorge für ihren behinderten Sohn.
Dieser Sohn, jetzt ein sehr alter Mann, bückte sich und trat durch die niedrige Tür in die frische Luft hinaus. Seine alten Augen folgten der Silhouette eines zerlumpten Mannes, der rasch zwischen die Bäume schlüpfte. Der Alte tätschelte seinem Hund den Kopf. »Da ist einer von ihnen«, flüsterte er dem hechelnden Hund zu. »Ich frage mich, warum sie nicht öfter kommen.«
Warum, fragte Janie sich ärgerlich, muß das Telefon immer gerade dann läuten, wenn ich den Mund voller Zahnpasta habe? Sie hätte den Anruf am liebsten dem Anrufbeantworter des Hotels überlassen, doch da ihr einfiel, daß es vielleicht Caroline war, spuckte sie die Zahnpasta aus und rannte los. Sie erwischten den Hörer gerade noch vor dem fünften Läuten, wonach sich automatisch der Anrufbeantworter eingeschaltet hätte. Sie leckte sich den Pfefferminzgeschmack von den Lippen und sagte: »Hallo?«
»Guten Morgen«, sagte Bruce.
Sie wollte schon sagen: »Wer ist da, bitte?«, nur, um ihn zu verwirren, aber sie war entschlossen, heute freundlich und sanft zu sein, vor allem, da er sich am Vorabend so großartig verhalten hatte.
Eigentlich, dachte sie, bin ich heute eher erregt und von meinen Hormonen gesteuert, seit meine Libido wieder erwacht ist.
»Guten Morgen«, sagte sie.
»Wie haben Sie geschlafen?« fragte er.
Sie fragte sich, ob sie ihm
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