Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
Morgendämmerung noch fern war, an seine Tür kommen? Selbst am helllichten Tag betraten kaum jemals Fremde diesen Teil der Stadt, um wie viel weniger bei Nacht! Er kniff ein Auge zu und spähte durch eine Ritze, um einen Blick auf den nächtlichen Besucher zu erhaschen, aber es war so dunkel, dass er nichts erkennen konnte.
»Wer da?«, fragte er schließlich.
»Ich suche den Medicus Canches«, war die Antwort.
Hatten sie ihn gefunden? Das Herz schien ihm aus der Brust springen zu wollen. »Geduldet Euch einen Moment«, sagte er. Die Worte hörten sich furchtsamer an, als ihm lieb war. Er räusperte sich, dann fuhr er fort: »Ich will sehen, ob ich ihn wecken kann.«
Ohne erst lange auf das unverständliche Brummen, das von der anderen Seite der Tür kam, zu achten, eilte er zurück in die Schlafkammer und rüttelte den Knaben an der Schulter.
»Guillaume«, flüsterte er. »Guillaume! Wach auf!«
Das Kind rieb sich verschlafen die Augen. »Aber was ist denn, Grand-père …?«
»Stell keine Fragen.« Seine Stimme klang selbst in seinen Ohren sehr scharf, deshalb bemühte er sich um einen sanfteren Ton, als er weitersprach. »Mach dich fertig, so wie ich es dir gezeigt habe - wir müssen womöglich rasch aufbrechen.«
Als habe er ihn nicht verstanden, sagte Guillaume: »Aber Grand-père, wohin gehen wir …«
»Schhh! Mach rasch.«
»Ja, Grand-père.« Er schlug die Decke zurück und stand schwankend vor Müdigkeit auf.
Alejandro stützte ihn. »So ist es brav«, sagte er. »Jetzt hör mir genau zu.« Er deutete auf eine Stelle in der Mitte der Kammer.
»Sieh von hier aus zur Tür. Wenn ich dir ein Zeichen gebe, wie wir es geübt haben, dann musst du zur hinteren Tür hinaus und zu Rachel laufen. Sie wird sich um dich kümmern, bis ich komme, um dich zu holen.«
Bei einem der vielen Male, die sie den Eintritt dieses gefürchteten Ereignisses durchgespielt hatten, hatte Guillaume unter Tränen gefragt: »Und was ist, wenn Ihr nicht kommt, um mich zu holen?« Alejandro hatte nichts darauf erwidert. Dass er dazu nicht mehr in der Lage sein könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen.
Der Knabe nickte ernst. Alejandro strich ihm ermutigend über die Wange und schlich zurück zur Tür. Er holte tief Luft und schob den Holzriegel zurück.
Die Tür wurde nicht sofort nach innen aufgestoßen, als er den Riegel zurückgeschoben hatte, wie es sicherlich der Fall gewesen wäre, wenn auf der anderen Seite die Männer König Edwards gestanden hätten. Als er sie ganz geöffnet hatte, sah sich der Arzt einem jüngeren Mann mit einem vertrauten Wappen auf seiner roten Tunika gegenüber. Erleichtert stieß er die angehaltene Luft aus.
»De Chauliac schickt Euch.«
Ein Nicken bestätigte diese Feststellung.
»Ich bin Canches.«
Der Soldat nickte erleichtert. »Mein Herr sagt, Ihr müsst in den Palast kommen.« Er hielt ihm eine versiegelte Schriftrolle entgegen. »Ich darf nicht ohne Euch zurückkehren.«
Alejandro nahm dem Soldaten das Schriftstück aus der Hand und sagte: »Er hätte meinen Besuch zu einer etwas geziemenderen Zeit erbitten können.«
Als der Arzt zu lesen begann, sagte der Soldat: »Ihr sollt unverzüglich kommen. Mein Herr sagt, Ihr sollt den Knaben mitbringen.«
Alejandro trat einen Schritt zurück, während er über den Inhalt der Botschaft nachdachte. Er und de Chauliac hatten über die Jahre hinweg immer wieder in heimlich gewechselten
Briefen eine Notlage wie diese erörtert und entsprechende Pläne dafür geschmiedet, aber jetzt, da es so weit zu sein schien, fühlte er sich nicht darauf vorbereitet. »Wie viel Zeit bleibt mir?«, fragte er leise.
»Er sagte nur, unverzüglich.«
Nach einem kurzen Schweigen fasste Alejandro den Mann beim Arm und zog ihn ins Haus. »Ich muss noch für zwei Dinge Sorge tragen, bevor wir aufbrechen«, sagte er.
»Aber am Ende der Straße warten schon die Pferde«, wandte der Soldat ein.
»Bringt sie her und führt sie durch das Haus«, flüsterte der Arzt. »Dahinter liegt eine schmale Gasse, wo sie keiner sieht.«
Der Soldat sah ihn erstaunt an, machte jedoch gehorsam kehrt und ging die dunkle Straße hinunter. Alejandro ließ die Tür für seine Rückkehr einen Spaltbreit offen. Dann ging er zur Feuerstelle und warf das Schriftstück in die Glut. Dann wedelte er ein paarmal mit der Hand hin und her, bis das Pergament Feuer fing. Er sah zu, wie das Siegel schmolz und die Flammen die Botschaft verschlangen, die de Chauliac mit eigener Hand verfasst
Weitere Kostenlose Bücher