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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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ins Aleph eintraten, und hat er womöglich etwas mitbekommen?
    »Glauben Sie an eine spirituelle Welt? An ein paralleles Universum, in dem Zeit und Raum ewig sind und immer gegenwärtig?«, frage ich.
    Die Bremsen quietschen. Yao nickt und setzt seine Worte mit Bedacht:
    »Ich glaube nicht an Gott, wie Sie Ihn sich denken. Aber ich glaube an vieles, was Sie sich nicht einmal vorstellen können. Wenn Sie morgen Abend nichts Besseres vorhaben, können wir vielleicht zusammen einen Spaziergang machen.«
    Der Zug hält. Hilal steht auf und kommt zu uns herüber. Yao legt lächelnd den Arm um ihre Schultern. Wir ziehen unsere Jacken an, und um 1.04 Uhr nachts steigen wir in Jekaterinburg aus.

Das Ipatjew-Haus
     
    Die bisher allgegenwärtige Hilal ist verschwunden.
    Auf der Suche nach ihr gehe ich hinunter in die Lobby unseres Hotels - doch Fehlanzeige. Obwohl ich fast den ganzen gestrigen Tag im Bett verbracht habe, konnte ich - erst einmal auf »festem Boden« - ohne Probleme noch ein wenig schlafen. Ich rufe im Zimmer von Yao an, und kurz darauf ziehen wir gemeinsam los, um uns die Stadt anzusehen. Das ist jetzt genau das Richtige: laufen, laufen, laufen, ein bisschen frische Luft schnappen und die unbekannte Stadt für mich entdecken.
    Unterwegs erzählt mir Yao allerhand Wissenswertes über Jekaterinburg - nach Moskau, Petersburg und Nowosibirsk ist es die viertgrößte Stadt Russlands und Zentrum einer Schwerindustrie-Region - alles Dinge, die in jedem Reiseführer stehen und die mich im Moment überhaupt nicht interessieren. Vor einem Gebäude, das wie eine riesige orthodoxe Kirche aussieht, bleiben wir stehen.
    »Das ist die >Heilig-Blut-Kathedrale<. Sie steht an der Stelle, wo sich bis 1977 das Ipatjew-Haus befand. Lassen Sie uns einen Augenblick hineingehen.«
    Ich stimme zu, da mir allmählich kalt wird. Wir treten in eine Art kleines Museum, in dem alles auf Russisch ausgeschildert ist.
    Yao sieht mich bedeutungsvoll an. »Spüren Sie nichts?«
    Als ich den Kopf schüttle, scheint er enttäuscht zu sein.
    »Ausgerechnet Sie, der an Parallelwelten und die Ewigkeit des gegenwärtigen Augenblicks glaubt, Sie spüren überhaupt nichts?«
    Fast bin ich versucht, ihm zu erklären, dass mich genau das ursprünglich hierhergeführt hat, ihm von meinem Gespräch mit J. und meinen inneren Blockaden zu erzählen, die verhindern, dass ich mit meiner spirituellen Seite in Verbindung trete. Nur stimmt das so nicht mehr. Seit meiner Abreise aus London bin ich ein anderer Mensch geworden, ich bin unterwegs zu meinem Reich und meiner Seele, und das macht mich ruhig und glücklich. Plötzlich muss ich an die gestrige Szene zwischen den Waggons denken, an Hilals Augen, und versuche beides schnell wieder zu verdrängen.
    »Wenn ich nichts spüre, heißt das nicht unbedingt, dass meine Verbindung zur spirituellen Welt gekappt ist. Vielleicht ist meine Energie nur gerade auf etwas anderes gerichtet. Diese Kathedrale hier sieht aus, als wäre sie erst kürzlich erbaut worden. Was genau ist hier passiert?«
    »Hier, im Haus von Nikolai Ipatjew, nahm das Russische Zarenreich sein Ende. In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 wurde die Familie von Nikolaus 11., Zar aller Reussen, mitsamt seinem Leibarzt und drei Dienern ermordet. Zuerst war der Zar dran, dem mehrmals in den Kopf und in die Brust geschossen wurde. Als Letzte starben Anastasia, Tatjana, Olga und Maria, die mit Bajonetten erstochen wurden. Es heißt, dass ihre Geister hier immer noch auf der Suche nach den Juwelen umherirren, die sie zurücklassen mussten. Boris Jelzin ließ 1977 auf Befehl des Moskauer Politbüros das Haus abreißen, damit die Geister der Vergangenheit verschwinden würden und Russland zu neuer Größe auferstehen könne. Seit 2003 steht an derselben Stelle diese Kathedrale.«
    »Warum haben Sie mich hierhergeführt?«
    Zum ersten Mal, seit wir uns in Moskau getroffen haben, wirkt Yao verlegen.
    »Weil Sie mich gestern gefragt haben, ob ich an Gott glaube. Nun, ich war ein gläubiger Mensch, bis Gott mir den Menschen nahm, den ich am meisten liebte: meine Frau. Ich war immer davon ausgegangen, dass ich vor ihr sterben würde, doch es kam anders«, erzählt Yao. »Bei unserer ersten Begegnung wusste ich auf einmal ganz sicher, dass ich sie schon lange vor unser beider Geburt gekannt hatte. Es regnete heftig, aber trotzdem wollte sie meine Einladung zu einem Tee nicht annehmen. Doch ich wusste, dass wir wie zwei Wolken am Himmel waren, von denen man

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