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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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auf, ziehe frische Sachen an und gehe in den Salon. Es sind bereits alle da - auch Hilal.
    »Sie müssen mir eine Genehmigung schreiben, damit ich hierherkommen kann«, sagt sie, noch bevor sie mir einen guten Morgen wünscht. »Es war heute ein Riesentheater, die Kontrolleure in jedem Waggon haben gesagt, sie würden mich nur durchlassen, wenn ich eine…«
    Ich übergehe ihre Worte und begrüße die anderen. Frage, ob sie gut geschlafen haben.
    »Nein!«, kommt es wie aus einem Mund. Offensichtlich war es nicht nur mir so ergangen. »Ich habe sehr gut geschlafen«, sagt Hilal, der nicht bewusst zu sein scheint, dass sie damit den Unmut aller auf sich zieht. »Mein Waggon ist in der Mitte des Zuges und schaukelt darum viel weniger. Dieser Waggon ist der allerschlimmste.«
    Mein Verleger beißt sich auf die Zunge, um keine Grobheit zu sagen. Seine Frau sieht aus dem Fenster und zündet sich eine Zigarette an, um ihre Verärgerung zu überspielen. Auch im Gesicht meiner Lektorin spiegelt sich deutlich ihre Missbilligung: >Habe ich euch nicht gleich gesagt, dass dieses Mädchen unmöglich ist?<
    Yao versucht, die Situation etwas zu entschärfen, indem er vorschlägt: »Von heute an werde ich jeden Tag einen Gedanken oder einen Spruch an den Spiegel im Salon heften.« Auch Yao wirkt munter und ausgeruht.
    Er erhebt sich, geht zum Spiegel und befestigt dort einen Zettel, auf dem steht: >Wer einen Regenbogen sehen will, muss lernen, den Regen zu lieben.<
    Die Begeisterung über diesen aufmunternden Satz hält sich in Grenzen. Man braucht keine Gedanken lesen zu können, um zu wissen, was den anderen durch den Kopf geht: >Und das soll jetzt noch 9000 Kilometer so weitergehen?<
    »Ich habe ein Foto auf meinem Handy, das ich Ihnen gern zeigen würde«, fährt Hilal fort. »Und ich habe meine Geige mitgebracht, falls jemand Musik hören möchte.«
    In der Küche nebenan läuft bereits das Radio. Die Anspannung im Abteil ist beinahe mit Händen zu greifen. Jeden Moment kann es zum ersten Eklat kommen, und ich werde nichts dagegen tun können.
    »Lassen Sie uns bitte in Ruhe frühstücken. Sie sind eingeladen, wenn Sie möchten. Anschließend werde ich versuchen, etwas Schlaf nachzuholen. Dann sehe ich mir gern Ihr Foto an.«
    Donnernd fährt ein Zug in der Gegenrichtung vorbei. Auch nachts hatte mich dieses Geräusch mit schöner Regelmäßigkeit hochschrecken lassen. Keine Spur vom sanften Schaukeln einer Wiege, es fühlt sich eher an, als ob man sich in einem Cocktail-Shaker befindet. Mir ist übel, und ich mache mir Vorwürfe, weil ich alle diese Menschen in mein Abenteuer mit hineingezogen habe. Langsam wird mir klar, warum die Achterbahn auf Portugiesisch »montanha russa«, russisches Gebirge, heißt.
    Hilal und der Dolmetscher versuchen krampfhaft, Konversation zu machen, aber niemand am Tisch - weder der Verleger noch seine Frau noch die Lektorin noch der Schriftsteller, der die Idee zu dieser Reise hatte - lässt sich in ein Gespräch verwickeln. Schweigend nehmen wir unser Frühstück ein, während draußen die immer gleiche Landschaft vorbeizieht - Dörfer, Wälder, Dörfer, Wälder.
    »Wie lange brauchen wir noch bis Jekaterinburg?«, erkundigt sich mein Verleger bei Yao.
    »Wir werden kurz nach Mitternacht ankommen.«
    Alle seufzen erleichtert auf. Vielleicht können wir die Reise noch abblasen, was zu viel ist, ist zu viel. Man braucht einen Berg nicht erst bestiegen zu haben, um zu wissen, dass er hoch ist, und genauso wenig braucht man bis nach Wladiwostok zu fahren, nur um sagen zu können, dass man die Transsib genommen hat.
    »Also, dann geh ich jetzt und versuche, noch etwas zu schlafen.«
    Ich erhebe mich. Hilal ebenfalls.
    »Und was ist mit der Genehmigung? Und dem Foto auf meinem Handy, das ich Ihnen zeigen wollte?«
    Genehmigung? Ach ja, die Erlaubnis, dass sie wieder in unseren Wagen zurückkommen kann. Bevor ich reagieren kann, schreibt Yao etwas auf Russisch auf einen Zettel und hält ihn mir zum Unterschreiben hin. Alle im Waggon, ich eingeschlossen, starren ihn wütend an.
    »Schreiben Sie dazu: nur einmal am Tag.«
    Yao tut, worum ich ihn gebeten habe. Dann erhebt er sich und macht sich auf die Suche nach einem der Kontrolleure, um die Erklärung abstempeln zu lassen. »Und das Foto auf dem Handy?«
    Inzwischen würde ich alles tun, nur um in mein Abteil zurückkehren und schlafen zu können. Aber ich möchte die Nerven meiner russischen Verleger nicht noch weiter strapazieren. Sie haben mich

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