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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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hinausblickt, die an dieser Stelle ruhig und freundlich wirkt. Weitere Türen öffnen sich, und ich beginne mich selbst in Hilals Augen zu sehen, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen…
    »Was machst du mit mir?«, fragt sie mich.
    »Das… Aleph…«, stottere ich.
    Aus den Augen der jungen Frau vor mir quellen Tränen. Es heißt, Tränen seien das Blut der Seele, und so scheint es tatsächlich zu sein, denn ich befinde mich jetzt in einem Tunnel und gehe in die Vergangenheit zurück, wo auch sie auf mich wartet, die Hände zum heiligsten Gebet gefaltet, das Gott den Menschen geschenkt hat. Sie lächelt, als ob sie mir versichern wolle, die Liebe heile alles, doch ich schaue auf meine Kleidung, meine Hände, und in der einen halte ich eine Schreibfeder…
    »Hör auf!«, schreie ich.
    Hilal schließt die Augen.
    Ich bin wieder in einem Eisenbahnwaggon, unterwegs nach Sibirien und von dort weiter bis an den Pazifischen Ozean. Ich fühle mich noch erschöpfter als vorher, und obwohl ich intuitiv begreife, was passiert ist, bin ich nicht in der Lage, es zu erklären.
    Hilal umarmt mich. Ich halte sie fest und streiche ihr sanft übers Haar.
    »Ich wusste es«, sagt sie. »Ich wusste, dass ich dir schon einmal begegnet bin. Ich wusste es, seit ich zum ersten Mal dein Foto gesehen habe. Es war, als wäre es bestimmt gewesen, dass wir uns in diesem Leben irgendwann wieder begegnen. Ich habe meinen Freunden davon erzählt, aber sie taten es als Spinnerei ab und meinten, dass es wahrscheinlich Tausenden von Menschen tagtäglich ebenso ergehe. Sie hatten mich beinahe überzeugt, doch das Leben… das Leben hat dich zu mir geführt. So ist es doch, nicht wahr?«
    Allmählich gelingt es mir, mich wieder zu fangen. Ich weiß, wovon sie spricht, denn vor vielen Jahrhunderten bin ich schon einmal durch eine dieser Türen gegangen, die ich gerade in Hilals Augen gesehen habe. Sie war ebenfalls dort gewesen, zusammen mit anderen Menschen. Behutsam frage ich sie, was sie gesehen hat.
    »Alles. Ich werde das wohl nie erklären können. Aber sowie ich meine Augen schloss, befand ich mich an einem angenehmen, sicheren Ort und fühlte mich… zu Hause.«
    Nein, sie weiß nicht, worum es geht. Noch nicht. Aber ich weiß es. Ich nehme ihr Gepäck und führe sie zurück in den Salon.
    »Ich kann jetzt weder denken noch reden. Setz dich einfach dorthin, lies irgendetwas. Ich muss mich ein wenig ausruhen, dann komme ich wieder. Falls dich jemand wegschicken will, dann sag einfach, ich hätte dich gebeten zu bleiben.«
    Sie setzt sich mit einer Zeitschrift in eine Ecke. Ich gehe in mein Abteil, falle angezogen aufs Bett und schlafe sofort ein.

Jemand klopft an die Tür.
    »Wir sind in zehn Minuten da.«
    Ich öffne die Augen. Draußen ist es Nacht. Ich habe den ganzen Tag verschlafen. Ob ich wohl später noch einmal einschlafen kann?
    »In Jekaterinburg wird der Wagen abgehängt und bleibt im Bahnhof. Packen Sie ein, was Sie für zwei Nächte in der Stadt brauchen«, fährt die Stimme vor der Tür fort.
    Ich ziehe das Rollo hoch. Draußen sind immer mehr Lichter zu sehen, der Zug wird langsamer und wird wohl tatsächlich gleich halten. Ich wasche mir das Gesicht und suche ein paar Sachen für den Aufenthalt in Jekaterinburg zusammen. Langsam kehrt die Erinnerung an das gestrige Erlebnis zurück.
    Als ich aus meinem Abteil trete, stehen alle schon im Gang - nur Hilal nicht, die immer noch auf dem Platz sitzt, an dem ich sie zurückgelassen habe. Sie lächelt nicht, sondern streckt mir einfach ein Blatt Papier entgegen.
    »Yao hat mir die Erlaubnis gegeben.«
    Yao flüstert mir zu:
    »Kennen Sie das Tao?«
    Selbstverständlich habe ich das Tao Te King gelesen, wie fast alle aus meiner Generation.
    »Dann erinnern Sie sich sicher an diese Worte: Verbrauche deine Energien, und du wirst jung bleiben.<«
    Er macht eine kaum merkliche Kopfbewegung in Hilals Richtung, die sich noch immer nicht vom Fleck gerührt hat. Ich finde seinen Kommentar geschmacklos.
    »Wenn Sie damit andeuten wollen …?«
    »Ich will damit gar nichts andeuten. Wenn Sie es falsch verstanden haben, dann nur, weil diese Idee bereits in Ihrem Kopf war. Ich werde Ihnen sagen, was ich gemeint habe, wenn Sie Lao Tses Worte schon nicht verstehen: Zeigen Sie Ihre Gefühle, und Sie werden wiederkehren. So wie ich das sehe, ist Hilal der richtige Mensch, Ihnen dabei zu helfen.«
    Haben die beiden etwa miteinander gesprochen? Ist Yao zufällig an uns vorbeigekommen, als wir

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