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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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schließlich zu dieser Reise eingeladen. Also bitte ich Hilal, mit mir zum Ende des Waggons zu kommen. Wir öffnen die Tür und stehen in einem Vorraum, von dem aus man auf eine Plattform und zum nächsten Waggon gelangt. Der Lärm hier ist unerträglich, weil zum Getöse der Räder auf den Schienen noch das Kreischen der Eisenplattformen kommt.
    Hilal zeigt mir das Foto auf dem Handy, das sie wahrscheinlich gleich nach Sonnenaufgang gemacht hat: eine langgezogene Wolke am Himmel.
    »Na? Sehen Sie es?«
    Ja, ich sehe eine Wolke.
    »Wir werden auf dieser Reise begleitet.«
    Wir werden von einer Wolke begleitet, die inzwischen längst verschwunden ist. Ich nicke ergeben, in der Hoffnung, Hilal so schneller loszuwerden.
    »Sie haben recht. Wir reden später darüber. Jetzt gehen Sie bitte in Ihr Abteil zurück.«
    »Das kann ich nicht. Sie haben mir nur die Erlaubnis gegeben, einmal am Tag hierherzukommen.«
    Die Müdigkeit hatte offensichtlich mein Denkvermögen beeinträchtigt, denn mir wurde jetzt erst klar, dass ich das Problem nicht beseitigt, sondern erst geschaffen hatte. Wenn Hilal nur einmal täglich kommen durfte, würde sie künftig morgens erscheinen und erst nachts wieder gehen. Ein Fehler, den ich später zu korrigieren gedachte.
    »Hören Sie gut zu: Ich bin auf dieser Reise auch nur Gast. So gern ich Sie um mich habe, weil ich Ihre Energie mag und dass Sie sich einfach nicht abwimmeln lassen, so…«
    Diese Augen. Grün, ohne jede Spur von Make-up. » … es ist nun mal so, dass…«
    Vielleicht ist es tatsächlich die Erschöpfung. Nach mehr als vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf verlieren wir einen Großteil unserer Widerstandskräfte. Genau so fühle ich mich jetzt. Der nur aus Glas und Stahl bestehende Raum beginnt vor meinen Augen zu verschwimmen. Der Lärm kommt plötzlich wie von weit her. Wer bin ich? Wo bin ich? Ich weiß es nicht mehr genau. Ich versuche mich zu konzentrieren, aber ich kann nicht klar denken. Ich weiß, dass ich Hilal darum bitte, keinen Ärger zu machen und in ihren Waggon zurückzukehren, aber meine Worte haben nichts mit dem zu tun, was ich sehe.
    Ich sehe ein Licht an einem heiligen Ort, und ich spüre, wie mich eine Welle erfasst, mich mit Frieden und Liebe erfüllt - zwei Dinge, die fast nie zusammenkommen. Ich sehe mich selbst, aber gleichzeitig sehe ich Elefanten in Afrika, mit erhobenen Rüsseln, Kamele in der Wüste; ich sehe Menschen, die sich in einer Bar in Buenos Aires unterhalten, einen Hund, der eine Straße überquert, einen Pinsel, mit dem eine Frau gerade das Bild einer Rose vollendet; ich sehe schmelzenden Schnee auf einem Berg in der Schweiz, höre die fremdartigen Gesänge von Mönchen, sehe einen Pilger vor der Kathedrale von Santiago de Compostela, einen Hirten mit seinen Schafen, Soldaten, die am frühen Morgen in den Krieg ziehen, Fische im Meer und alle möglichen Städte und Wälder auf der ganzen Welt - alles ist klar und überdeutlich und gleichzeitig winzig klein und ganz verschwommen.
    Ich bin im Aleph, jenem Punkt, in dem sich alles zur selben Zeit an derselben Stelle befindet.
    Ich stehe an einem Fenster zur Welt und ihren Geheimnissen, spüre die Poesie, die in der Zeit verlorenging, und kann Worte sehen, erstarrt im Raum. Hilals Augen erzählen mir von Dingen, deren Existenz wir nicht einmal ahnen und die nur unsere Seelen wahrnehmen können. Von Sätzen, die man versteht, auch wenn sie unausgesprochen bleiben. Von Gefühlen, die zugleich erhebend und bedrückend sind.
    Ich stehe vor Türen, die sich für den Bruchteil einer Sekunde öffnen und den Blick freigeben auf das, was dahinter liegt - auf Schätze und Fallstricke, nie gegangene Wege und Reisen, die es nicht einmal in der Vorstellung gegeben hat.
    »Warum sehen Sie mich so an? Warum zeigen mir Ihre Augen all das?«
    Das sage nicht ich, sondern die junge Frau, die vor mir steht. Unsere Augen sind zu Spiegeln unserer Seelen geworden - nicht nur unserer eigenen, sondern all jener, die in diesem Moment mit uns auf diesem Planeten sind, geboren werden oder sterben, lieben, leiden oder träumen.
    »Das bin gar nicht ich … Es ist nur so, dass …«
    Ich kann den Satz nicht beenden, denn immer mehr Türen öffnen sich und offenbaren ihre Geheimnisse. Ich sehe Lügen und Wahrheiten, seltsame Tanzrituale, die vor der Skulptur einer Göttin abgehalten werden, ich sehe Matrosen, die mit der aufgewühlten See kämpfen, und ich sehe ein Paar, das an einem Strand sitzt und auf dieselbe See

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