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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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über das Schreiben hält, begreift das Wesentliche nicht: Schreiben ist zu Papier gebrachtes Leben. Also versuchen Sie, am Leben anderer Anteil zu nehmen.«
    »Als ich noch an der Universität unterrichtet habe, habe ich immer die Ankündigungen für all diese Schreibseminare gesehen. Das kam mir alles so…«
    »…künstlich vor? Meinen Sie das? Ein Handbuch lehrt uns nicht lieben, ein Seminar uns nicht schreiben. Ich empfehle Ihnen, sich nicht ausschließlich mit anderen Schriftstellern zu umgeben, sondern mit den unterschiedlichsten Menschen. Denn letztlich ist Schreiben eine Tätigkeit wie jede andere. Wichtig ist einzig, dass man sie voller Überzeugung und mit Begeisterung ausübt.«
    »Könnten Sie sich vorstellen, ein Buch über die letzten Tage von Zar Nikolaus n. zu schreiben?«
    »Nein, das würde mich nicht reizen. Es ist eine außergewöhnliche Geschichte, aber Schreiben bedeutet für mich vor allem, mich selbst zu entdecken. Wenn ich Ihnen diesen einen Rat geben darf: Lassen Sie sich nicht von der Meinung anderer verunsichern. Nur die Mittelmäßigkeit ist sich ihrer selbst sicher. Trauen Sie sich und tun Sie das, was Sie wirklich wollen. Versuchen Sie Menschen zu finden, die keine Angst davor haben, etwas falsch zu machen, und die zu ihren Fehlern stehen - weshalb ihre Arbeit oft nicht anerkannt wird. Aber es sind Menschen wie diese, die die Welt verändern und die, nach einigen Irrwegen, etwas zustande bringen, was unsere Gemeinschaft entscheidend verändern wird.«
    »Wie Hilal?«
    »Ja. Aber eins möchte ich noch sagen: Was Sie für Ihre Frau empfunden haben, empfinde ich für meine. Ich bin kein Heiliger und will auch keiner sein. Aber, um bei Ihrem Bild zu bleiben: Auch wir waren zwei Wolken, und jetzt sind wir eine. Wir waren zwei Eisbrocken, die das Sonnenlicht geschmolzen hat, und jetzt sind wir ein und dasselbe lebendige Wasser.«
    »Aber wenn ich daran denke, wie Sie und Hilal einander angesehen haben…«
    Ich antworte nicht, und Yao dringt nicht weiter in mich.
    Die Jungs im Park tun, als würden sie die Mädchen gar nicht bemerken, die nur wenige Meter von ihnen entfernt stehen - obwohl beide Gruppen sich ganz offensichtlich sehr füreinander interessieren. Ältere Menschen gehen an ihnen vorbei, in Erinnerungen versunken. Mütter lächeln ihre Kinder an, als wären sie alle zukünftige Millionäre, berühmte Künstler und Staatspräsidenten. In dieser Szene liegt die gesamte Bandbreite menschlichen Verhaltens.
     
    »Ich habe in vielen Ländern gelebt«, nimmt Yao das Gespräch wieder auf. »Natürlich gab es schwere Zeiten, ich habe Ungerechtigkeiten erfahren und so manches Mal versagt, als andere von mir Großes erwarteten. Aber nichts davon hat mein Leben so beeinflusst wie jene Augenblicke, in denen ich Menschen beim Singen, beim Geschichtenerzählen zugehört und dabei beobachtet habe, wie sie ihr Leben genossen. Es ist zwanzig Jahre her, dass ich meine Frau verloren habe, und dennoch kommt es mir vor, als wäre es gestern gewesen. Sie ist immer noch da, hier auf dieser Bank, und denkt wie ich an unsere glücklichen Zeiten zurück.«
    Ja, sie ist immer noch da. Ich würde es ihm erklären, wenn ich nur die richtigen Worte fände.
    Meine Gefühle liegen nah an der Oberfläche, seit ich das Aleph erlebt und begriffen habe, was J. gemeint hat. Ich weiß noch nicht, wie ich all das verarbeiten soll, aber ich bin zuversichtlich.
    »Es lohnt immer, eine Geschichte zu erzählen, selbst wenn nur die eigene Familie zuhört. Wie viele Kinder haben Sie?«
    »Zwei Söhne und zwei Töchter. Aber die wollen meine Geschichten nicht mehr hören. Ich habe sie wohl zu oft erzählt. Werden Sie ein Buch über Ihre Reise mit der Transsib schreiben?«
    »Nein.«
    Auch wenn ich es wollte, wie könnte ich das Aleph beschreiben?

Das Aleph
     
    Hilal ist noch immer nicht wieder aufgetaucht. Nach der Signierstunde fand eine Party mit russischer Musik und Volkstänzen statt - eine willkommene Abwechslung zum internationalen Pop-Repertoire bei solchen Anlässen. Während des anschließenden Abendessens mache ich höfliche Konversation und bedanke mich bei den Organisatoren. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und frage, ob jemand Hilal die Adresse des Restaurants gegeben habe.
    Ich blicke in erstaunte Gesichter. Selbstverständlich nicht! Alle nahmen an, dass ich die junge Frau ebenfalls als eine regelrechte Plage empfände, und heilfroh sei, dass sie nicht zur Signierstunde aufgetaucht war. »Sie hätte

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