Aleph
womöglich noch ein Geigenkonzert gegeben, um sich in Szene zu setzen«, argwöhnt meine Lektorin.
Yao sieht mich über den Tisch hinweg an, er weiß, dass es in mir ganz anders aussieht und ich mich sehr gefreut hätte, wenn Hilal hier gewesen wäre. Aber wieso? Um noch einmal ins Aleph einzutreten und durch die Tür zu gehen, mit der ich nichts als schlechte Erinnerungen verbinde? Ich weiß, wohin diese Tür mich führt. Viermal bin ich schon dort gewesen, ohne zu finden, was ich gesucht habe. Das war nicht der Grund, aus dem ich die lange Reise zurück in mein eigenes Reich auf mich genommen hatte.
Das Abendessen geht zu Ende. Die beiden Leser, die wir eingeladen haben, machen Fotos und fragen, ob sie mir die Stadt zeigen dürfen. Ich stimme zu, doch Yao erinnert mich daran, dass ich bereits mit ihm verabredet bin.
Der Unmut, den Hilal auf sich gezogen hatte, weil sie unbedingt die ganze Zeit in meiner Nähe sein wollte, wendet sich nun gegen meinen Dolmetscher. Man hatte ihn engagiert, damit er zu meiner Verfügung stehe, und jetzt ist es genau umgekehrt.
»Ich nehme an, Paulo wird müde sein«, sagt meine Lektorin. »Es war ein langer Tag.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen, bei all den positiven Schwingungen heute Nachmittag …«
Der Verleger und die Lektorin haben recht. Yao will offenbar zeigen, dass er eine privilegierte Stellung in »meinem Reich« einnimmt. Ich verstehe, dass er um seine geliebte Frau trauert, und wenn der richtige Moment gekommen ist, werde ich ihm mein Mitgefühl ausdrücken. Doch ich befürchte fast, dass er mir jetzt gleich »eine phantastische Geschichte« erzählen wird, »die ein großartiges Buch abgeben würde«. Gerade von Menschen, die mit einem Verlust fertig werden müssen, habe ich diesen Satz schon viele Male gehört.
Ich versuche es allen recht zu machen: »Ich werde mit Yao zu Fuß zum Hotel zurückgehen. Anschließend brauche ich etwas Zeit für mich.« Es würde das erste Mal seit unserer Abreise sein, dass ich mich zurückziehe.
***
Es hat sich deutlich abgekühlt, und ein kräftiger Wind lässt es noch kälter erscheinen. Wir laufen durch eine belebte Straße, und ich sehe, dass ich nicht der Einzige bin, der schnell nach Hause will. Die Läden schließen gerade, und die Leuchtreklamen gehen aus. Trotzdem bin ich nach anderthalb Tagen im Zug und mit der Aussicht auf jede Menge weitere Zugkilometer froh, mich bewegen zu können.
Yao kauft an einem Lieferwagen zwei Orangensäfte. Ich habe eigentlich gar keinen Durst, aber ein wenig Vitamin C kann bei diesen Temperaturen sicher nicht schaden.
»Behalten Sie den Becher.«
Ich verstehe zwar nicht recht, wieso, widerspreche aber nicht. Wir gehen weiter, es scheint eine der Hauptgeschäftsstraßen von Jekaterinburg zu sein. Schließlich bleiben wir vor einem Kino stehen.
»Perfekt. Mit der Kapuze und dem Schal wird Sie niemand erkennen. Wir werden jetzt betteln.«
»Betteln?! Kommt nicht in Frage. Das habe ich seit meiner Hippiezeit nicht mehr getan. Außerdem wäre es anmaßend gegenüber denjenigen, die wirklich bedürftig sind.«
»Aber Sie sind bedürftig. Als wir die >Heilig-Blut-Kathedrale< besucht haben, gab es Momente, in denen Sie vollkommen abwesend schienen, weit weg, gefangen in Ihrer Vergangenheit und den Zwängen Ihres Erfolges ausgesetzt. Ich mache mir auch Sorgen wegen des Mädchens, aber wenn Sie sich tatsächlich verändern wollen, kann Ihnen das Betteln dabei helfen, wieder unschuldiger, offener zu werden.«
Auch ich mache mir Sorgen um Hilal. Und obwohl ich weiß, was er meint, ist einer der vielen Gründe für diese Reise nun mal die Rückkehr in die Vergangenheit, zu dem, was unter der Oberfläche liegt, zu meinen Wurzeln.
Ich überlege, ob ich ihm die Geschichte vom chinesischen Bambus erzählen soll, tue es dann aber doch nicht.
»Sie sind derjenige, der in der Vergangenheit feststeckt. Sie weigern sich, den Verlust Ihrer Frau hinzunehmen. Also bleibt sie hier, an Ihrer Seite, und versucht Sie zu trösten, obwohl sie eigentlich dem Göttlichen Licht entgegengehen sollte.«
Nach einer kurzen Pause fahre ich fort: »Niemand wird je einen anderen für immer verlieren. Wir alle gehen auf in einer einzigen Seele, die sich entwickeln muss, damit die Welt fortbesteht und wir einander darin wiederbegegnen können. Trauer kann dazu nichts beitragen.«
Yao denkt über meine Worte nach und sagt dann:
»Aber das ist nicht alles.«
»Das ist in der Tat nicht alles«, pflichte ich
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