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Aleph

Aleph

Titel: Aleph
Autoren: Paulo Coelho
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über die Liebe gesagt, die größer als ein einzelner Mensch ist.«
    »Ja. Aber die Liebe besteht aus Entscheidungen.«
    »In Nowosibirsk hast du mich dazu gebracht, dir zu vergeben, und ich habe es getan. Jetzt bitte ich dich: Sag mir, dass du mich liebst.«
    Ich nehme ihre Hand. Wir schauen beide auf den Bach.
    »Keine Antwort ist auch eine Antwort«, sagt sie.
    Ich lege meinen Arm um sie und bette ihren Kopf an meine Schulter.
    »Ich liebe dich. Ich liebe dich, weil jede Liebe auf der Welt wie ein Fluss ist, und alle Flüsse fließen in ein und dasselbe Meer. Dort treffen sie aufeinander und verwandeln sich in eine einzige Liebe, die zu Regen wird und die Erde segnet.
    Ich liebe dich wie ein Fluss, der an seinen Ufern Bäume, Büsche und Blumen wachsen lässt. Ich liebe dich wie ein Fluss, der den Durstigen zu trinken gibt und die Menschen dorthin trägt, wohin sie gelangen wollen.
    Ich liebe dich wie ein Fluss, der gelernt hat, über Wasserfälle zu fließen und in Senken zu ruhen. Ich liebe dich, weil wir alle am selben Ort geboren sind, eine einzige Quelle ist unser Ursprung, die uns immer weiter mit Wasser versorgt. Wenn wir uns schwach fühlen, müssen wir nur ein wenig warten, denn schon bald kehrt der Frühling zurück, der Schnee taut und gibt uns neue Energie.
    Ich liebe dich wie ein Fluss, der als kleines Rinnsal in einem Gebirge entsteht, der wächst und wächst und sich mit anderen Flüssen vereinigt, bis er so groß wird, dass er jedes Hindernis umfließen kann, um dahin zu gelangen, wohin auch immer er will.
    Ich empfange deine Liebe und gebe dir meine. Nicht die Liebe eines Mannes für eine Frau, nicht die Liebe eines Vaters für seine Tochter, nicht die Liebe Gottes für seine Geschöpfe. Sondern eine namenlose Liebe, für die es keine Erklärung gibt, so wie auch ein Fluss seinen Lauf nicht erklären kann, sondern diesem nur folgt. Eine Liebe, die nichts erbittet und nichts gibt, die sich nur offenbart. Ich werde nie dein sein, du wirst nie mein sein, aber dennoch kann ich voller Überzeugung sagen: Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich.«
    Vielleicht ist es das Licht dieses Nachmittags, aber in diesem Augenblick scheint das Universum endlich vollkommene Harmonie erreicht zu haben. Wir bleiben sitzen, ohne die geringste Lust, ins Gasthaus zurückzukehren, wo Yao mich sicher schon erwartet.

Der Adler vom Baikalsee
     
    Es kann jeden Augenblick dunkel werden. Wir stehen zu sechst neben einem kleinen Boot, das am Ufer festgemacht ist: Hilal, Yao, der Schamane, ich und zwei ältere Frauen. Die Unterhaltung wird auf Russisch geführt. Der Schamane schüttelt den Kopf. Yao versucht es noch einmal, aber der Schamane kehrt ihm den Rücken zu und geht zum Boot.
    Jetzt diskutieren Yao und Hilal. Er wirkt ungehalten, aber ich glaube, dass ihn die Situation eigentlich amüsiert. Wir sind inzwischen mehr als einmal gemeinsam auf dem Weg des Friedens gegangen, und ich kann seine Körpersprache lesen. Er täuscht den Ärger nur vor.
    »Worüber redet ihr?«
    »Offenbar darf ich nicht mit«, sagt Hilal. »Ich soll bei diesen beiden Frauen bleiben, die ich in meinem Leben noch nie zuvor gesehen habe, und die ganze Nacht hier in dieser Kälte verbringen, weil niemand da ist, der mich zurück ins Gasthaus bringen kann.«
    »Du wirst hier mit ihnen dasselbe erleben wie wir auf der Insel«, erklärt Yao. »Aber wir können nicht mit einer Tradition brechen. Ich habe es euch gesagt, aber er hat darauf bestanden, dich mitzunehmen. Wir müssen los, denn wir dürfen den richtigen Augenblick nicht verpassen: das, was ihr Aleph nennt und ich Qi, und was die Schamanen zweifellos unter einem weiteren Namen kennen. Es dauert nicht lange, wir sind in wenigen Stunden wieder zurück.«
    »Lassen Sie uns aufbrechen«, sage ich und nehme Yao am Arm. Dann wende ich mich lächelnd an Hilal:
    »Nichts hätte dich im Gasthaus gehalten, wenn du dadurch eine neue Erfahrung verpasst hättest. Ich weiß nicht, ob es eine gute oder eine schlechte Erfahrung sein wird, aber glaubst du nicht, dass es in jedem Fall besser ist, als allein zu Abend zu essen?«
    »Und du glaubst wahrscheinlich, dass deine schönen Worte ausreichen, um einem Herzen Nahrung zu geben? Ich verstehe vollkommen, dass du deine Frau liebst, aber könntest du mir nicht wenigstens eine kleine Gegenleistung für all die Universen geben, die ich dir zu Füßen lege?«
    Ich wende mich ab und gehe zum Boot. Noch so eine idiotische Diskussion.
     
    ***
     
    Der
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