Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aleph

Aleph

Titel: Aleph
Autoren: Paulo Coelho
Vom Netzwerk:
ohne jedoch erklären zu können, woher diese Kraft kam. Als die Menschen begannen, Liebe füreinander zu empfinden, spürten sie auch den Drang, das Mysterium des Lebens zu erforschen. Die ersten Schamanen waren Frauen, die Quelle des Lebens. Da sie nicht mit der Jagd oder dem Fischfang beschäftigt waren, konnten sie sich der Kontemplation widmen und in die heiligen Mysterien eintauchen. Die Tradition wurde immer an diejenigen weitergegeben, die am fähigsten schienen. Die Schamaninnen lebten einsam und waren deshalb zumeist Jungfrauen. Sie wirkten auf einer anderen Ebene, brachten die Kräfte der spirituellen Welt und die Kräfte der physischen Welt ins Gleichgewicht.
    Um das zu erreichen, wurde fast immer ein ähnliches Ritual zelebriert: Die Schamanin der Gruppe versetzte sich durch Musik (meist durch Trommeln) in Trance, bereitete sich und anderen Tränke, deren Zutaten sie in der Natur fand. Ihre Seele trat aus dem Körper heraus und ging in ein paralleles Universum über. Dort traf sie die Geister der Pflanzen, der Tiere, der Toten und der Lebenden - die alle in einer einzigen Zeit versammelt sind, in dem, was Yao Qi nennt und ich als Aleph bezeichne. Dort begegnete die Schamanin auch ihren Führern und war in der Lage, die Energien ins Gleichgewicht zu bringen, Krankheiten zu heilen, es regnen zu lassen, den Frieden wieder herzustellen. Sie konnte die von der Natur geschickten Symbole und Zeichen deuten und bestrafte jeden, der den Kontakt des Stammes mit dem umfassenden Ganzem störte. Damals, als die Suche nach Nahrung den Stamm zwang, ständig weiterzuziehen, war es nicht möglich, Tempel zu bauen oder Altäre aufzustellen. Es gab nur das >umfassende Ganze< in dessen Schoß der Stamm aufgehoben war.
    Ähnlich wie die des Anführers wurde mit der Zeit auch die Stellung der Schamanin korrumpiert. Da Gesundheit und Schutz der Gruppe vom Einklang mit der Natur abhängig waren, stattete man die Frauen, die für den spirituellen Kontakt verantwortlich waren - der Seele des Stammes -, mit großer Autorität aus, häufig größer als die des Anführers. Ab einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt in der Geschichte (wahrscheinlich kurz nach dem Übergang zur Landwirtschaft, dem Ende des Nomadentums) eignete sich der Mann unrechtmäßig die weibliche Rolle an. Kraft siegte schließlich über Harmonie. Es ging nicht mehr um die natürlichen Gaben dieser Frauen, sondern nur noch um die Macht, die ihre Position mit sich brachte.
    Der nächste Schritt war die Verankerung des nunmehr männlichen Schamanentums in der Sozialstruktur: Die ersten Religionen entstanden. Die Gesellschaft hatte sich verändert, hatte das Nomadentum aufgegeben, doch die Achtung und die Furcht vor Anführern und Schamanen waren für immer in den Seelen der Menschen verankert. Die Priester, die das erkannt hatten, konnten nun zusammen mit den Anführern die Menschen in Abhängigkeit halten. Wer die Regierenden herausforderte, dem drohte die Strafe der Götter. Doch die Zeit kam, in der die Frauen ihre Rolle als Schamaninnen zurückverlangten, weil die Welt sich ohne sie beständig in Konflikt befand. Doch jeder Versuch endete mit ihrer Bestrafung als Ketzerinnen und Huren. Fühlte man sich durch sie bedroht, zögerten die Machthaber nicht, sie mit dem Scheiterhaufen zu bestrafen, sie zu steinigen und, wenn man sich barmherzig zeigte, zu verbannen. In der Geschichte der Zivilisation sind keine Spuren weiblicher Religionen mehr zu finden; wir wissen nur, dass die ältesten bisher von Archäologen entdeckten magischen Objekte Göttinnen darstellen. Doch die gingen im Sand der Geschichte verloren. Ebenso wie ihre magische Kraft, die, nur für irdische Zwecke verwendet, allmählich schwächer wurde und schließlich ihre Macht verlor. Geblieben ist allein die Furcht vor göttlichen Strafen.

Und so steht vor mir ein Mann und keine Frau - obwohl die Frauen, die mit Hilal am Ufer zurückgeblieben sind, genauso viel spirituelle Kraft haben wie er. Ich habe nichts dagegen, dass er das Ritual ausführen wird. Beide Geschlechter besitzen die gleiche Gabe, mit dem Unbekannten in Kontakt zu treten, solange sie für ihre »weibliche Seite« offen sind. Meine fehlende Begeisterung hierherzukommen rührt einzig daher, dass ich weiß, wie weit sich die Menschheit von ihren Ursprüngen entfernt hat, vom dem, was einmal der Traum Gottes war.
    Der Schamane zündet ein Feuer in einer Vertiefung im Boden an, um die Flammen vor dem unablässig wehenden Wind zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher