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Aleph

Aleph

Titel: Aleph
Autoren: Paulo Coelho
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Schamane lässt den Motor an und übernimmt das Ruder. Wir fahren auf eine Art Felsen zu, der in etwa zweihundert Meter Entfernung vom Ufer liegt. Ich nehme an, dass wir nur ein paar Minuten brauchen werden.
    »Nun, wo ich nicht mehr zurückkann, hätte ich gern gewusst, warum Sie unbedingt wollten, dass ich den Schamanen kennenlerne. Es war das Einzige, worum Sie mich auf dieser Reise gebeten haben, obwohl Sie mir so viel gegeben haben. Ich meine damit nicht nur das Aikido-Training. Immer wenn es darauf ankam, haben Sie die Stimmung im Zug gerettet, Sie haben meine Worte übersetzt, als wären es Ihre eigenen, und erst gestern haben Sie gezeigt, wie wichtig es ist, aus Respekt vor dem Gegner einen Kampf aufzunehmen.«
    Yao schüttelt den Kopf und scheint sich unbehaglich zu fühlen.
    »Ich dachte, es würde Ihren eigenen Interessen entgegenkommen…«
    »Sie wissen, dass das nicht stimmt. Hätte ich ihn kennenlernen wollen, hätte ich darum gebeten.«
    Er schaut mich an und nickt schließlich.
    »Ich habe Sie darum gebeten, weil ich versprochen habe, bei meiner nächsten Reise in diese Region hierher zurückzukommen. Ich hätte auch allein gehen können, aber meine Vereinbarung mit Ihrem Verlag sieht vor, dass ich Ihnen ständig zur Verfügung stehe. Dem Verleger hätte ein solcher Alleingang nicht gefallen.«
    »Ich brauche keine ständige Begleitung. Und es hätte dem Verleger sicher nichts ausgemacht, wenn ich in Irkutsk geblieben wäre.«
    Die Dunkelheit bricht unerwartet schnell herein. Yao setzt zu einer neuen Erklärung an:
    »Der Mann, der das Boot lenkt, kann mit meiner Frau sprechen. Ich weiß, dass das kein Schwindel ist, denn bestimmte Dinge kann kein Mensch auf der Welt wissen. Außerdem hat er meine Tochter gerettet. Er hat geschafft, was keinem der Ärzte in den besten Krankenhäusern in Moskau, Peking, Shanghai oder London gelungen ist. Und er hat keine Gegenleistung dafür verlangt, außer dass ich ihn wieder besuche. Und das tue ich jetzt in Ihrer Begleitung.
    Vielleicht schaffe ich es so endlich, die Dinge zu verstehen, die mein Gehirn nicht akzeptieren will.«
    Die kleine Insel in der Mitte des Sees kommt schnell näher; bis zur Ankunft wird es sicher nicht mehr lange dauern.
    »Diese Antwort akzeptiere ich, und ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Es ist ein wunderbarer Abend, und ich bin an einem der schönsten Orte der Welt, höre die Wellen gegen das Boot schlagen… Den Schamanen zu treffen wird eine weitere außergewöhnliche Erfahrung auf dieser Reise sein.«
    Außer an dem Tag, an dem er über den Verlust seiner Frau sprach, hat Yao nie irgendeine Gefühlsregung gezeigt. Jetzt nimmt er meine Hand und drückt sie an seine Brust. Das Boot läuft auf einen schmalen Kieselstrand auf, der als Ankerplatz dient.
    »Danke. Vielen Dank.«
     
    ***
     
    Wir steigen auf den Felsen hinauf, gerade noch rechtzeitig, um die Sonne rotglühend am Horizont versinken zu sehen. Um uns herum gibt es nur Gestrüpp und im Osten drei oder vier Bäume, die noch keine Blätter tragen. In einem von ihnen hängen Opfergaben und sogar das Gerippe eines Tieres. Ich habe großen Respekt vor der Weisheit des alten Schamanen, und doch wird er mir nichts Neues zeigen, denn ich bin bereits viele Wege gegangen und weiß, dass sie alle zum selben Ort führen. Dennoch kann ich sehen, dass seine Absichten aufrichtig sind. Während er das Ritual vorbereitet, versuche ich mich an alles zu erinnern, was ich über die Rolle der Schamanen in der Geschichte der Zivilisation gelernt habe.
     
    ***
     
    In alten Zeiten gab es immer zwei herausragende Persönlichkeiten in jedem Stamm. Das war zum einen der Anführer: der Mutigste, der stark genug war, jeden Herausforderer zu besiegen, der intelligent genug war, um Verschwörungen zu entgehen, denn der Kampf um die Macht wird seit Anbeginn der Menschheit geführt. Einmal in sein Amt eingesetzt, ist der Anführer für den Schutz und das Wohlergehen seines Volkes in der physischen Welt zuständig. Im Lauf der Zeit wurde seine Wahl, bei der ursprünglich die Eigenschaften des Kandidaten an erster Stelle standen, zunehmend von anderen Faktoren bestimmt, und der Posten des Anführers schließlich vom Vater auf den Sohn vererbt. Das war der Beginn jener Politik des Machterhalts, die Kaiser, Könige, Diktatoren hervorbrachte.
    Wichtiger als der Anführer war jedoch der Schamane. Schon immer spürten die Menschen die Gegenwart einer höheren Kraft, fähig, Leben zu spenden, aber auch zu nehmen,
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