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Aleph

Aleph

Titel: Aleph
Autoren: Paulo Coelho
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schützen. Dann stellt er eine Trommel neben sich und öffnet eine Flasche, die eine mir unbekannte Flüssigkeit enthält. Der Schamane - die Bezeichnung stammt übrigens aus Sibirien - folgt dem gleichen Ritual wie ein paje im Urwald Amazoniens und ein bruxo in Mexiko, ein Priester des afrikanischen candomble, ein Spiritist in Frankreich, ein Medizinmann der Eingeborenenstämme in Nordamerika, ein Aborigine in Australien, ein Charismatiker der katholischen Kirche, ein Mormone in Utah und so fort.
    Und genau das ist das Überraschende an all diesen Traditionen, die eine solche Ähnlichkeit niemals zugeben würden.
    Sie befinden sich auf derselben spirituellen Ebene und sind auf der ganzen Welt zu finden, obwohl sie auf der physischen Ebene keinerlei Kontakt untereinander haben. Die Große Mutter sagt:
    »Oft haben meine Kinder Augen, sehen aber nichts. Sie haben Ohren, hören aber nichts. Also werde ich von einigen fordern, mir gegenüber nicht blind oder taub zu sein. Auch wenn sie dafür einen hohen Preis zahlen müssen, werden sie dafür verantwortlich sein, die Tradition am Leben zu erhalten, und eines Tages werden meine Segnungen auf die Erde zurückkehren.«
    Der Schamane beginnt rhythmisch seine Trommel zu schlagen und wird dabei ganz allmählich schneller. Er sagt etwas zu Yao, der es mir gleich übersetzt.
    »Er hat nicht dieses Wort benutzt, aber das Qi kommt mit dem Wind.«
    Wie auf ein Stichwort frischt der Wind auf. Obwohl ich dick eingepackt bin - Wetterjacke, Handschuhe, dicke Wollmütze und Schal, der mein Gesicht bis zu den Augen verdeckt -, hält das die Kälte nicht ab. Meine Nase hat jegliches Gefühl verloren, und kleine Eiskristalle bilden sich auf meinen Augenbrauen. Yao sitzt elegant auf seinen untergeschlagenen Beinen. Ich versuche das auch, muss aber ständig die Stellung wechseln, denn die Kälte des Bodens dringt durch den Stoff meiner Hose und lässt die Muskeln einschlafen, was zu schmerzhaften Krämpfen führt.
    Die Flammen tanzen wild, aber das Feuer geht nicht aus. Der Rhythmus der Trommel wird schneller. Der Schamane versucht, sein Herz dem Rhythmus seiner Hände auf dem Leder der Trommel anzupassen, die unten offen ist, um die Geister einzulassen. In den afrobrasilianischen Traditionen ist dies der Augenblick, in dem das Medium oder der Priester seine Seele aus seinem Körper entlässt und ein anderes, erfahreneres Wesen von ihm Besitz ergreift. Der einzige Unterschied ist, dass es in Brasilien keinen bestimmten Augenblick gibt, in dem sich das, was Yao das Qi nennt, manifestiert.
    Ich beschließe, meine Rolle als bloßer Zuschauer aufzugeben und mich ebenfalls in Trance zu versetzen. Ich versuche meinen Herzschlag an den Trommelrhythmus anzupassen, schließe die Augen, leere meine Gedanken, aber die Kälte und der Wind hindern mich daran weiterzumachen. Ich muss mich erneut anders hinsetzen. Als ich die Augen öffne, bemerke ich, dass der Schamane ein paar Federn in der Hand hat, die die Trommel hält. Möglicherweise gehörten sie einem seltenen einheimischen Vogel. Überall auf der Welt sind den Traditionen zufolge Vögel die Botschafter des Göttlichen. Sie helfen dem Schamanen oder seinesgleichen, sich aufzuschwingen und mit den Geistern zu sprechen.
    Auch Yao hat die Augen offen: Die Ekstase gehört nur dem Schamanen, nur ihm allein. Der Wind wird noch stärker, mir wird immer kälter, aber den Schamanen scheint das nicht zu stören. Das Ritual geht weiter: Er öffnet die Flasche mit der grünlichen Flüssigkeit, trinkt davon, reicht sie Yao, der ebenfalls einen Schluck davon nimmt und sie an mich weitergibt. Aus Respekt probiere ich die süße, leicht alkoholische Mixtur und reiche dem Schamanen die Flasche zurück. Er unterbricht sein Trommeln nur, um Zeichen in die Erde zu ritzen. Ich habe diese Symbole noch nie gesehen, sie erinnern an eine Schrift, die vor langer Zeit verschwunden ist. Aus seiner Kehle kommen seltsame Laute, die wie um ein Vielfaches verstärkte Vogelstimmen klingen. Die Trommel wird immer noch lauter und schneller, die Kälte stört mich jetzt nicht mehr, und - plötzlich - ist es windstill.
    Niemand braucht mir das zu erklären: Yaos Qi ist jetzt da. Wir blicken einander an, und eine unbeschreibliche Ruhe ergreift uns. Der Schamane ist nicht mehr der Mann, der das Schiff geführt und Hilal gebeten hat, am Ufer zurückzubleiben: Seine Züge haben sich verändert, er sieht jünger, weiblicher aus.
    Eine Zeitlang, wie lange, kann ich nicht genau sagen,
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