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Aleph

Aleph

Titel: Aleph
Autoren: Paulo Coelho
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umdrehen!«
    Ich rühre mich nicht von der Stelle, atme aber erleichtert auf. Keine Magie, kein special effect: Opernsängerinnen bringen das ebenfalls zustande, indem sie auf einer so hohen Frequenz singen, dass scheinbar mühelos Champagnergläser zerspringen.
    Wieder streicht der Bogen über die Saiten, wieder gibt es einen hohen, schrillen Ton.
    »Ich weiß alles, was passiert ist. Ich hab’s gesehen. Die Frauen haben mich hingeführt, und ich brauchte auch keinen Lichtring dazu.«
    Sie hat es gesehen.
    Eine Riesenlast fällt von meinen mit Glasscherben bedeckten Schultern. Die Fahrt zur Insel war, ohne dass Yao davon wusste, auch Teil der Reise zurück zu meinem Reich gewesen. Ich brauchte nichts zu sagen. Sie hatte es gesehen.
    »Du hast mich im Stich gelassen, als ich dich am meisten brauchte. Deinetwegen musste ich sterben, und jetzt bin ich wiedergekommen, um dich heimzusuchen.«
    »Du kannst mich nicht heimsuchen. Mir wurde vergeben.«
    »Du hast meine Vergebung erzwungen. Ich habe dir vergeben, ohne genau zu wissen, was ich tat.« Noch ein schriller Akkord.
    »Wenn du willst, dann nimm deine Vergebung zurück.«
    »Das will ich nicht. Ich habe dir vergeben. Und wenn ich dir noch siebzig mal sieben Mal vergeben müsste, so würde ich es doch immer wieder tun. Aber die Bilder in meinem Kopf sind so undeutlich. Erzähl mir, bitte, was genau passiert ist. Ich erinnere mich nur daran, dass ich nackt war und dass du mich angeschaut hast. Daraufhin habe ich allen gesagt, dass ich dich liebe, und deshalb wurde ich dann zum Tode verurteilt. Meine Liebe war der Grund dafür, dass ich verurteilt wurde.«
    »Darf ich mich jetzt umdrehen?«
    »Noch nicht. Erst musst du mir sagen, was geschehen ist. Ich weiß nur, dass ich in einem vergangenen Leben deinetwegen gestorben bin. Es kann hier gewesen sein, es kann irgendwo sonst auf der Welt gewesen sein, aber ich habe mich geopfert, um dich zu retten. Weil ich dich liebte.«
    Meine Augen haben sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, aber bei geschlossenem Fenster ist die Hitze im Zimmer unerträglich.
    »Was genau haben die Frauen mit dir gemacht?«
    »Wir haben uns ans Ufer des Sees gesetzt, sie haben ein Feuer angezündet, eine Trommel geschlagen, sind in Trance gefallen und haben mir irgendetwas zu trinken gegeben. Schon nach dem ersten Schluck begannen diese wirren Visionen. Sie dauerten nicht lange. Ich erinnere mich nur an das, was ich dir erzählt habe. Ich dachte, es sei nur ein Alptraum, aber die Frauen versicherten mir, wir beide seien schon in einem früheren Leben zusammen gewesen. Genau das hattest du mir auch gesagt.«
    »Nein. Es ist in der Gegenwart geschehen; es geschieht jetzt. Ich bin in diesem Augenblick in einem Gasthof in Sibirien, in einem Ort, dessen Namen ich nicht kenne. Ich bin auch in einem Kerker in Cordoba. Ich bin bei meiner Frau in Brasilien, bei den vielen Frauen, die ich sonst gekannt habe, und in einigen dieser Leben bin ich selbst auch eine Frau. - Spiel mir etwas vor.«
    Ich ziehe den Pullover aus. Hilal beginnt eine Sonate zu spielen, die ursprünglich nicht für die Geige geschrieben wurde. Meine Mutter hatte sie auf dem Klavier gespielt, als ich klein war.
    »Es gab eine Zeit vor der Zeit, in der die Welt weiblich war. Ihre Energie war reine Schönheit, die Menschen glaubten an Wunder und kannten nur den gegenwärtigen Augenblick. Die Griechen hatten dann zwei Wörter für die Zeit: Kairos, das göttliche Zeit, Ewigkeit bedeutet, und Kronos, nach dem gleichnamigen Gott der Zeit benannt, der seine eigenen Kinder verschlang und der für den Zeitablauf steht, die messbare Zeit. Der Kampf ums Überleben und die Notwendigkeit zu wissen, wann wir pflanzen müssen, um ernten zu können, schufen den Zeitbegriff, wie wir ihn heute kennen und der uns fortan zu Sklaven der Erinnerung machte. - Spiel weiter, dann erkläre ich es dir genauer.«
    Hilal spielt weiter. Ich fange an zu weinen, schaffe es aber, weiterzusprechen.
    »In diesem Moment befinde ich mich in einem Garten in einer Stadt, sitze auf einer Bank hinter dem Haus, in dem ich wohne, blicke in den Himmel und versuche herauszubekommen, was die Leute meinen, wenn sie davon sprechen, dass man >Luftschlösser baut<. Ich bin sieben Jahre alt, und eine Stunde zuvor hat ein Erwachsener diesen Ausdruck gebraucht. Ich versuche ein goldenes Schloss zu bauen, kann mich aber nur schwer konzentrieren. Die Nachbarskinder sitzen bereits mit ihren Eltern beim Abendessen, und meine Mutter spielt
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