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Aleph

Aleph

Titel: Aleph
Autoren: Paulo Coelho
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vergeben, habe ich Rache gesucht. Nicht weil ich mich stärker als die anderen, sondern weil ich mich schwächer fühlte. Indem ich andere verletzte, verletzte ich mich im Grunde selbst. Ich habe Menschen gedemütigt, um mich gedemütigt zu fühlen. Ich habe andere angegriffen, um zu spüren, wie meinen Gefühlen Gewalt angetan wurde.
    Ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin, die als Kind missbraucht wurde. Ich habe es schon bei dem Essen in der brasilianischen Botschaft in Moskau gesagt, dass solche Missbrauchsfälle relativ häufig sind und dass wahrscheinlich einige der anderen Frauen am Tisch in ihrer Kindheit ebenfalls missbraucht worden waren. Aber andere mögen damit besser zurechtkommen als ich. Ich jedenfalls kann dieses Erlebnis immer noch nicht hinter mir lassen.«
    Sie atmet tief durch, sucht nach Worten, fährt fort:
    »Ich kann über etwas nicht hinwegkommen, worüber alle anderen durchaus hinwegkommen. Du bist jemand, der auf der Suche nach seinem Schatz ist, und ich bin ein Teil dieses Schatzes. Dennoch fühle ich mich in meiner Haut wie eine Fremde. Es gibt nur einen Grund, warum ich mich dir nicht in die Arme werfe, dich küsse und auf der Stelle mit dir schlafe: Ich habe nicht den Mut dazu, ich habe Angst, dich zu verlieren. Während du dich auf die Suche nach deinem Reich begeben hast, bin ich auf die Suche nach mir selbst gegangen; doch kam ich an einem bestimmten Punkt der Reise nicht mehr weiter. Von da an wurde ich immer aggressiver, denn ich fühlte mich zurückgewiesen und nutzlos, und auch du wirst mich nicht vom Gegenteil überzeugen können.«
    Ich setze mich auf den einzigen Stuhl im Zimmer und bitte sie, sich auf meinen Schoß zu setzen. Ihr Körper ist schweißbedeckt, so heiß ist es im Zimmer. Sie hält noch immer die Geige und den Bogen.
    »Ich habe vor vielem Angst«, sage ich. »Und das werde ich immer haben. Ich werde nicht versuchen, es dir zu erklären. Aber würdest du etwas für mich tun?«
    »Ich möchte mir nicht immer wieder sagen müssen, dass alles dies eines Tages vorbei sein wird. Es wird nie vorbei sein. Ich muss lernen, mit meinen Dämonen zu leben!«
    »Warte. Ich habe diese Reise nicht gemacht, um die Welt zu retten, und noch viel weniger, um dich zu retten. Aber es heißt, dass es möglich ist, Schmerz umzuleiten. Er verschwindet nicht gleich, aber er verschwindet allmählich und in dem Maße, wie es dir gelingt, ihn woandershin zu verlagern. Unbewusst hast du das schon dein ganzes Leben lang getan. Jetzt schlage ich dir vor, es ganz bewusst zu tun.«
    »Willst du nicht mit mir schlafen?«
    »Doch, ich will es sogar unbedingt. Dort, wo sich unsere Körper berühren, spüre ich eine noch größere Hitze, als hier im Zimmer ohnehin schon herrscht. Ich bin kein Superman. Deshalb bitte ich dich, beides zu übertragen, deinen Schmerz und mein Begehren.
    Ich bitte dich aufzustehen, in dein Zimmer zu gehen und dort Geige zu spielen, bis du nicht mehr kannst. Wir sind die einzigen Gäste hier, also wird niemand sich wegen des Lärms beschweren. Lege all dein Gefühl in die Musik, und morgen wieder. Und denk beim Spielen immer daran, dass das, was dich verletzt hat, dich stark gemacht und sich in eine Gabe verwandelt hat. Anders als du meinst, haben andere Menschen ihr Trauma nicht etwa überwunden, sie haben es nur an einem Ort verwahrt, den sie nie aufsuchen. Aber dir hat Gott einen Weg gezeigt, wie du tatsächlich nach und nach damit fertigwerden kannst. Du hältst den Schlüssel dazu in Händen.«
    »Ich liebe dich, wie ich Chopin liebe. Ich wollte immer Pianistin werden, aber damals konnten sich meine Eltern nur eine Geige leisten.«
    »Und ich liebe dich wie ein Fluss.«
    Sie steht auf und beginnt zu spielen. Der Himmel hört die Musik, und die Engel steigen herunter, um mit mir dieser nackten Frau zu lauschen, deren Körper sich im Takt der Musik bewegt. Ich habe Hilal begehrt und sie geliebt, ohne sie zu berühren und ohne einen Orgasmus zu haben. Nicht weil ich der treueste Ehemann der Welt bin, sondern weil dies die Art war, in der unsere Körper sich begegnet sind - während die Engel dabei zusahen.
    Zweimal ist an diesem Tag schon die Zeit stehengeblieben - als mein Geist mit dem Adler vom Baikalsee geflogen ist und als ich die Musik meiner Kindheit hörte, um jetzt noch ein drittes Mal stehenzubleiben. Ich bin ganz in diesem Augenblick, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, nehme zusammen mit Hilal die Musik in mich auf, wie ein unerwartetes Gebet, und bin
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