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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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dieselbe Musik wie du, aber auf dem Klavier. Wenn ich nicht das Bedürfnis hätte, alles zu erklären, würde ich jetzt ganz dort sein. Es duftet nach Sommer, in den Bäumen zirpen Zikaden, und ich sitze als kleiner Junge auf der Bank im Garten und denke an das Mädchen, in das ich gerade verliebt bin.
    Ich bin nicht in der Vergangenheit, ich bin in der Gegenwart. Ich bin der Junge, der ich einmal war. Ich werde immer dieser Junge bleiben, wir alle werden die Kinder, die Erwachsenen, die Alten sein, die wir einmal waren und die wir sein werden. Ich erinnere mich nicht. Ich erlebe diese Zeit noch einmal.«
    Ich kann nicht weitersprechen. Ich bedecke mein Gesicht mit den Händen und fange an zu schluchzen, während Hilal immer eindringlicher, vollkommener spielt und mich zu den vielen Personen führt, die ich in diesem Leben bin und die ich in anderen war. Ich weine nicht um meine verstorbene Mutter, weil sie jetzt hier ist und für mich spielt. Ich weine nicht um das Kind, das versucht, sein goldenes Luftschloss zu bauen, das immer wieder verschwindet. Denn das Kind ist auch hier, und es hört die wunderbare Musik von Chopin, die es schon so oft gehört hat und immer wieder hören möchte. Ich weine, weil ich dieses Gefühl nicht anders ausdrücken kann: Ich lebe, mit jeder Pore, jeder Zelle meines Körpers lebe ich, als gäbe es keinen Anfang und kein Ende, als wäre ich nie geboren worden und würde nie sterben.
    Es mag Momente geben, in denen ich traurig oder verwirrt bin, aber da ist noch etwas Größeres, ein Ich, das alles versteht und über meine Qualen lacht. Ich weine um das Vergängliche und das Ewige, weil ich weiß, dass Worte weniger ausdrücken können als Musik, und darum werde ich diesen Augenblick auch nie beschreiben können. Ich lasse mich von Chopin, Beethoven und Wagner in die Vergangenheit tragen, die die Gegenwart ist - ihre Musik kann mich weiter tragen als der Ring aus Licht.
    Ich weine, während Hilal spielt. Und sie spielt, bis ich mich beruhigt habe und nicht mehr weine.
     
    ***
     
    Hilal geht zum Lichtschalter. Wegen der zerborstenen Glühbirne brennt die Sicherung durch. Es bleibt dunkel im Zimmer. Sie geht zum Nachttisch und schaltet die Lampe dort an.
    »So. Jetzt darfst du dich umdrehen.«
    Als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben, sehe ich sie nackt dastehen, die Arme ausgebreitet, in der einen Hand die Geige, in der anderen den Bogen.
    »Du hast heute zu mir gesagt, dass du mich wie ein Fluss liebst. Jetzt möchte ich dir sagen, dass meine Liebe zu dir ist wie die Musik von Chopin. Intensiv und groß und tief wie der See, imstande -«
    »Die Musik spricht für sich selber. Du brauchst nichts weiter zu sagen.«
    »Ich habe Angst. Große Angst. Was genau habe ich gesehen?«
    Ich beschreibe ihr in allen Einzelheiten, was in jenem Keller geschehen ist. Erzähle ihr von meiner Feigheit und dem Mädchen, das ich genau so sah wie jetzt sie, nur dass ihre Hände mit Stricken gefesselt waren und sie keine Geige in Händen hielt. Hilal hört schweigend zu, die Arme noch immer ausgebreitet, nimmt jedes meiner Worte in sich auf. Wir stehen beide in der Mitte des Raumes, ihr Körper ist so weiß wie der des fünfzehnjährigen Mädchens, das in diesem Augenblick zu einem Scheiterhaufen in der Nähe der Stadt Cördoba gebracht wird. Ich werde sie nicht retten können, weiß, dass sie zusammen mit ihren Freundinnen in den Flammen sterben wird. Das ist schon einmal geschehen und geschieht immer wieder und wird so lange immer wieder geschehen, wie die Welt besteht. Ich erzähle Hilal, dass jenes Mädchen Schamhaar hatte, während sie ihres rasiert hat, etwas, das ich entsetzlich finde, als ob alle Männer lieber mit einem Kind Sex haben als mit einer erwachsenen Frau. Ich bitte sie darum, sich nicht wieder zu rasieren, und sie verspricht es mir.
    Ich zeige ihr meine Ekzeme, die in diesem Moment besonders deutlich zu sehen sind, und erkläre ihr, dass es sich dabei um Male vom selben Ort, aus derselben Vergangenheit handelt. Ich frage sie, ob sie sich an die Worte erinnert, die sie oder die anderen Mädchen auf dem Weg zum Scheiterhaufen zu mir gesagt haben. Sie schüttelt den Kopf.
    »Begehrst du mich?«
    »Sehr. Wir sind hier ganz allein an diesem wunderbaren Ort, und du stehst nackt vor mir. Ja, ich begehre dich sehr.«
    »Ich habe Angst vor meiner Angst. Ich bitte mich selbst um Vergebung, nicht weil ich hier bin, sondern weil ich in meinem Schmerz egoistisch war. Anstatt zu

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