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Aleph

Aleph

Titel: Aleph
Autoren: Paulo Coelho
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gerade tust.
    Sei gesegnet. So, wie du dein Leben veränderst, veränderst du das der Menschen um dich herum. Wenn jemand dich um etwas bittet, vergiss nicht, zu geben. Wenn jemand an deine Tür klopft, mache ihm auf. Wenn jemand etwas verloren hat und zu dir kommt, tue alles, um wiederzufinden, was verlorenging. Aber vor allem bitte auch du, klopfe an Türen, und finde heraus, was in deinem Leben fehlt. Ein Jäger weiß genau, was ihn erwartet: Friss oder werde gefressen.«
    Ich nicke.
    »Du hast so etwas bereits erlebt und wirst es noch oft erleben«, fährt der Schamane fort. »Ein Freund deiner Freunde ist auch ein Freund des Adlers vom Baikalsee. Heute Abend wird nichts Besonderes geschehen. Du wirst keine Visionen oder magischen Erlebnisse haben und auch nicht in Trance fallen - weder um mit den Lebenden noch um mit den Toten zu kommunizieren. Du wirst nur Freude empfinden, wenn der Adler deiner Seele den Baikalsee zeigt. Du selber wirst nichts sehen, aber dein Geist in der Höhe wird in diesem Augenblick erfüllt sein.«
    So ist es tatsächlich, auch wenn ich wirklich nichts sehe. Das ist auch nicht notwendig: Ich weiß, dass der Schamane die Wahrheit sagt. Wenn meine Seele in meinen Körper zurückkehrt, wird sie weiser und ruhiger sein denn je.
    Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein, denn ich kann sie nicht länger spüren. Die Flammen flackern, werfen unheimliche Schatten auf das Gesicht des Schamanen, aber ich bin kaum noch hier. Ich lasse meinen Geist wandern, das braucht er nach all den Anstrengungen, die ich ihm zugemutet habe. Mir ist schon lange nicht mehr kalt. Ich fühle überhaupt nichts mehr - ich bin frei und werde es bleiben, solange der Adler des Baikalsees über dem Wasser und den verschneiten Bergen schwebt. Schade, dass der Geist mir nicht erzählen kann, was er sieht; aber ich muss wirklich nicht alles wissen, was mit mir geschieht.
    Der Wind hat wieder aufgefrischt. Der Schamane verbeugt sich tief vor der Erde und dem Himmel. Das Feuer geht unvermittelt aus. Ich schaue zum Mond, der jetzt hoch am Himmel steht, und kann in seinem Licht die Umrisse von Vögeln ausmachen. Der Schamane ist wieder ein alter Mann, der müde wirkt, als er seine Trommel in einen bestickten Beutel steckt.
    Yao geht zu ihm und gibt ihm eine Handvoll Münzen und Scheine. Ich tue es ihm gleich.
    »Wir haben für den Adler vom Baikalsee gebettelt. Hier ist, was wir bekommen haben.«
    Der Schamane verbeugt sich und nimmt dankend das Geld entgegen. Anschließend gehen wir ohne Eile zum Boot zurück. Die heilige Insel der Schamanen hat ihren ganz eigenen Geist. Und sie ist so stockfinster, dass wir nicht erkennen können, wohin wir unsere Füße setzen.
    Am Ufer angekommen, finden wir nur noch die zwei Frauen vor. Sie richten uns aus, Hilal sei bereits ins Gasthaus zurückgegangen. Erst da bemerke ich, dass der Schamane kein einziges Wort über sie verloren hat.

Die Angst vor der Angst
     
    Die Heizung im Zimmer ist voll aufgedreht, die Luft riecht stickig und ist verbraucht. Noch bevor ich nach dem Lichtschalter taste, lege ich Jacke, Mütze und Schal ab und reiße das Fenster auf. Der Gasthof liegt auf einem kleinen Hügel, und ich beobachte, wie unten im Ort ein Licht nach dem anderen verlöscht. Ich bleibe eine ganze Weile so stehen und versuche mir die Wunder vorzustellen, die mein Geist in dieser Nacht erfahren hat. Als ich mich gerade umdrehen will, höre ich eine Stimme. »Bleib stehen.«
    Es ist Hilal. Und ihr Ton erschreckt mich: Es scheint ihr todernst zu sein.
    »Ich bin bewaffnet.«
    Nein, das kann nicht sein. Oder haben diese Frauen ihr etwa…?
    »Mach einen Schritt zurück.« Ich tue, was sie gesagt hat.
    »Noch einen Schritt. So ist es gut. Und jetzt einen Schritt nach rechts. Gut so. Stopp.«
    Ich habe aufgehört zu denken - mein Instinkt hat die Befehlsgewalt über meine Reaktionen übernommen. Blitzschnell bietet mein Geist mir meine Optionen an: mich auf den Boden werfen, versuchen, Hilal in ein Gespräch zu verwickeln oder schlicht abwarten, was passiert. Wenn sie tatsächlich entschlossen ist, mich zu töten, wird sie kurzen Prozess machen. Doch wenn sie in den nächsten Minuten nicht schießt, wird sie anfangen zu reden, und dann habe ich eine Chance.
    Ein hoher, schriller Ton, ein Knall wie von einer Explosion, und ich bin über und über von Glasscherben übersät. Die Glühbirne über meinem Kopf ist zerborsten.
    »Ich halte den Bogen in der rechten Hand, die Geige in der linken. Nein, nicht
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