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Aleph

Aleph

Titel: Aleph
Autoren: Paulo Coelho
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reden er und Yao miteinander auf Russisch. Der Horizont schimmert hell, und der Mond geht auf. Ich verfolge seinen Weg am Himmel, sein silbriger Schein spiegelt sich im Wasser des Sees, der von einem Augenblick auf den anderen ganz glatt daliegt. Links von mir beginnen die ersten Lichter des Dorfes zu funkeln. Ich bin vollkommen ruhig und versuche, so viel wie möglich von diesem Augenblick in mir aufzunehmen. Ich hatte nicht mit so etwas gerechnet, wie mit so vielem anderem in meinem Leben. Es wäre schön, wenn das Unerwartete immer derart schön und friedlich wäre.
    Schließlich fragt mich der Schamane über Yao als Dolmetscher, warum ich hier sei.
    »Um einen Freund zu begleiten, der versprochen hat, an diesen Ort zurückzukommen. Um Ihren Fähigkeiten Respekt zu zollen. Und um mich gemeinsam mit Ihnen in das Mysterium zu versenken.«
    »Der Mann neben mir glaubt an gar nichts«, sagt der Schamane, für den Yao weiter übersetzt. »Er ist bereits mehrfach hierhergekommen, um mit seiner Frau zu sprechen, und dennoch glaubt er nicht. Arme Frau! Anstatt die Zeit bis zu ihrer Rückkehr auf Erden an der Seite Gottes zu verbringen, muss sie ständig zurückkommen, um diesen unglücklichen Mann zu trösten. Die Wärme der Göttlichen Sonne verlassen und diese erbärmliche Kälte Sibiriens ertragen, nur weil seine Liebe sie nicht gehen lässt.«
    Der Schamane lacht in sich hinein.
    »Warum erklären Sie ihm das nicht?«, frage ich.
    »Das habe ich bereits getan. Aber er kann sich einfach nicht mit dem abfinden, was er, wie viele andere Menschen in dieser Situation auch, für einen Verlust hält.«
    »Reiner Egoismus.«
    »Ja, reiner Egoismus. Leute wie er wollen, dass die Zeit stehenbleibt oder gar rückwärts läuft.« Der Schamane lacht abermals.
    »In dem Augenblick, als seine Frau auf die andere Ebene überging, war Gott für ihn gestorben. Er wird noch ein-, zwei-, zehnmal zu mir kommen und wieder und immer wieder versuchen, mit ihr zu sprechen. Nicht, damit ich ihm helfe, das Leben besser zu verstehen. Er will, dass die Dinge sich seiner Sichtweise darüber anpassen.«
    Er macht eine Pause. Blickt um sich. Es ist inzwischen vollkommen dunkel, nur das Licht der Flammen beleuchtet die Szene.
    »Ich kann Verzweiflung nicht heilen, wenn die Leute in ihr Trost suchen.«
    »Mit wem spreche ich gerade?«, frage ich den Schamanen.
    »Du bist ein Gläubiger.«
    Ich wiederhole die Frage. »Valentina«, antwortet er schließlich. Eine Frau.
    »Der Mann neben mir mag etwas töricht sein, was spirituelle Dinge angeht, aber er ist ein großartiger Mensch, imstande, fast alles zu ertragen, nur nicht, was er den >Tod< seiner Ehefrau nennt. Der Mann neben mir ist ein guter Mensch.«
    Der Schamane nickt.
    »Du auch. Du bist mit einem Freund zu mir gekommen, der schon lange dein Freund ist. Lange bevor ihr euch in diesem Leben begegnet seid. So wie ich auch dich bereits sehr lange kenne.«
    Wieder lacht er.
    »Es war an einem anderen Ort, doch wir erlitten dasselbe Schicksal in einer Schlacht: das, was dein Freund >Tod< nennt. Ich weiß nicht, in welchem Land es war, aber wir wurden von Kugeln getroffen. Krieger begegnen einander wieder. Das ist Teil des Göttlichen Gesetzes.«
    Er wirft einige Kräuter ins Feuer und erklärt, dass wir schon in einem anderen Leben um ein Feuer gesessen und uns unsere Abenteuer erzählt haben.
    »Dein Geist spricht mit dem Adler des Baikalsees, der über allem wacht, der Feinde angreift und Freunde beschützt.«
    Gleichsam als Bestätigung seiner Worte ertönt in der Ferne der Schrei eines Vogels. Die Kälte ist einem Wohlgefühl gewichen. Der Schamane reicht noch einmal die Flasche herum.
    »Gegorene Getränke sind lebendig, sie entwickeln sich von der Jugend zum Alter. Im richtigen Moment genossen, können sie den Geist der Schüchternheit, den Geist der Einsamkeit, den Geist der Angst, den Geist der Besorgnis bekämpfen. Trinkt man jedoch zu viel davon, bewirken sie das Gegenteil und bringen den Geist der Niederlage und der Aggression mit sich. Man muss den Punkt kennen, den man nicht überschreiten darf.«
    Wir trinken und erfreuen uns an diesem Moment.
    »In diesem Augenblick ist dein Körper auf der Erde, aber dein Geist ist zusammen mit mir in der Höhe. Das ist alles, was ich dir anbieten kann: einen Streifzug durch den Himmel über dem Baikalsee. Du bist nicht gekommen, um etwas zu erbitten, also werde ich dir nur das geben. Ich hoffe, dass es dich dazu bringt, mit dem weiterzumachen, was du
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