Alera 02 - Zeit der Rache
darüber gemacht, wie er in den Palast gelangt sein mochte, genauso wenig sorgte ich mich jetzt, wie er ihn wieder verlassen würde. Denn ich wusste, er besaß die Gabe, nach Belieben zu kommen und zu gehen. Während der Wintermonate war er mehrere Male über das Dach bis auf meinen Balkon geklettert, um mich aus dem Palast zu schmuggeln.
Meine Augen blieben an die Stelle geheftet, an der er zuletzt gestanden hatte. Gleichzeitig durchdrangen mich bis ins Mark der Kummer und die Trauer darüber, dass ich den Mann, den ich liebte, entbehren musste. Allerdings war ich auch ein wenig erleichtert angesichts der Aussicht, bald mehr über Mirannas und vielleicht auch Londons Schicksal zu erfahren. Mitgenommen von den Ereignissen des Tages schleppte ich mich in mein Schlafgemach. Ohne auf meine Zofe zu warten, entkleidete ich mich, zog die schweren Vorhänge zu, um das schwindende Licht des frühen Abends auszusperren, und kroch unter die Decken.
Nur wenig später hörte ich Steldor den Salon betreten und realisierte, dass er nur etwas früher hätte auftauchen müssen, um Narian Aug’ in Auge gegenüberzustehen. Mein Herz pochte vor Angst heftig bei dem Gedanken, wie diese Begegnung hätte ausgehen können. Als ich die sich nähernden Schritte meines Gemahls hörte, schloss ich die Augen und stellte mich schlafend, obwohl mein Körper so angespannt war wie eine Bogensehne. Er klopfte sachte an meine Tür, öffnete sie und trat ein. Ich spürte seinen Blick auf mir.
»Alera«, rief er leise.
Ich lag bewegungslos und hoffte verzweifelt, er würde keine weiteren Anstalten machen, mich zu wecken, denn ich war mir sicher, er würde in meinen Augen lesen, dass ich ihn erneut verraten hatte. Doch nach kurzer Zeit ging er, offenbar zufrieden, gesehen zu haben, dass mit mir alles in Ordnung war. Nur ich wusste, wie weit entfernt ich in Wirklichkeit von diesem Zustand war.
15. EHRE IN ZEITEN DES KRIEGES
Am nächsten Morgen stand ich vor einem Problem. Ich musste mich am Abend mit Narian treffen, um ihn nach meiner Schwester, nach London und danach zu fragen, warum er im vergangenen Frühjahr ohne ein Wort zu irgendjemand verschwunden war und nun eingewilligt hatte, auf Seiten der Cokyrier zu kämpfen. Ich verzehrte mich nach Antworten auf diese Fragen, und Narian bot mir die Gelegenheit, die Wahrheit zu erfahren. Doch um Koranis’ Gut zum vereinbarten Zeitpunkt zu erreichen, musste ich das Palastgelände noch in der Dämmerung verlassen, und zwar zu Pferde, sowie die Stadttore unbehelligt passieren. Das alles zusammen schien angesichts der gegenwärtigen Sicherheitsstufe unmöglich.
Der Nachmittag brach an, und als die Sonne himmelabwärts wanderte, musste ich mir widerstrebend eingestehen, dass es nur eine Lösung gab. Ich nahm all meinen Mut zusammen, öffnete die Tür meines Salons und bat Destari herein. Er folgte mir zum Erkerfenster, wo ich mich in einem der Polstersessel niederließ, die meine Mutter immer so gemocht hatte. Ich forderte ihn auf, sich ebenfalls zu setzen, aber er weigerte sich und zog es vor, seinem Rang entsprechend, zu stehen.
Ich konnte die Erschöpfung in seinen Augen sehen, auch wenn sie nicht an seiner Haltung abzulesen war. Was er dachte, vermochte ich nicht zu erraten. Allerdings war er bereits Soldat gewesen, als London vor siebzehn Jahren nach zehn grauenhaften Monaten aus dem Kerker des Feindes geflohen war. Ohne Zweifel hatte er eine entscheidende Rolle bei der Genesung seines Freundes gespielt. Jetzt dagegen, und das war uns allen klar, würde London, selbst wenn es ihm auf wundersame Weise gelänge, seine zweite Gefangenschaft bei den Cokyriern zu überleben, vielleicht nicht einmal mehr als ein Schatten seiner Selbst zurückkehren. Diese Vorstellung genügte, um mir die Kehle zuzuschnüren, aber ich schluckte heftig und sah meinem Leibwächter in die Augen.
»Destari, ich brauche deine Hilfe.«
»Selbstverständlich, Eure Hoheit. Was kann ich für Euch tun?« Seine Antwort war automatisch erfolgt, doch ich bemerkte einen Schatten von Besorgnis in seinem Blick.
»Ich werde dir nur anvertrauen, was mich bewegt, wenn du mir versprichst absolutes Stillschweigen darüber zu bewahren. Das Folgende muss unter uns bleiben.«
Leicht erschöpft ließ sich Destari nun doch auf dem zuvor von mir angebotenen Sessel nieder.
»Alera, falls es etwas ist, das zu melden ich verpflichtet bin, wäre es wohl das Beste, Ihr würdet es mir gar nicht erst sagen.«
Ich starrte unbehaglich auf meine Hände
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