Alera 02 - Zeit der Rache
befreit hatte, bestätigte mir, woran ich nie ernsthaft gezweifelt hatte: die Unerschütterlichkeit seiner Liebe und seiner Loyalität gegenüber Hytanica, selbst wenn er auf der Seite des Overlord gekämpft hatte. Ich schloss einen Moment lang die Augen und holte tief Luft. Dabei wurde mir klar, dass London noch nie mehr über seine Gefangenschaft in Cokyri im Verlauf des letzten Krieges erzählt hatte.
»Ich hatte Miranna bereits gesehen und wusste, wo sie festgehalten wurde«, fuhr London fort. »Ohne sie zu fliehen, wäre für mich nicht infrage gekommen, also überwältigte ich ihre Bewacher und nahm sie mit. Sobald wir die Mauern des Tempels überwunden hatten, stahl ich ein Pferd und wir ritten, praktisch ohne zu rasten, nach Hytanica zurück.«
Ich nutzte das folgende Schweigen, um selbst eine Frage zu stellen.
»Was denkst du, ist ihr in Cokyri geschehen?«
London musterte mich einige Zeit, und ich hatte den Eindruck, er überlege, was mir zuzumuten sei, dann stieß er sich von der Wand, an der er lehnte, ab und stand vor mir.
»Lass mich dir berichten, was ich beobachtet habe. Miranna befand sich in den Händen der Hohepriesterin, und Nantilam gab ihr ein annehmbares Zimmer, anständiges Essen und eine akzeptable Behandlung. Sie wurde innerhalb der Tempelmauern in keinster Weise verletzt.«
»Das hast du beobachtet. Aber was glaubst du?« Mein Herz hämmerte vor Aufregung schmerzhaft in meiner Brust.
London seufzte tief, bevor er zögernd fortfuhr.
»Na gut, lass mich dir sagen, was ich vermute. Als ich sie holen kam, war es Nacht, und ich trug einen schwarzen Umhang, und sie hatte Angst vor mir. Sie hat auf unserem Rückweg nach Hytanica sehr wenig gesprochen und noch weniger geschlafen, und sie hatte große Angst vor der Dunkelheit. All das bringt mich zu der Annahme, dass sie zunächst vor den Overlord gebracht worden ist. Ich glaube, dass sie so lange in seiner Gewalt war, bis er sie benutzt hat, um Druck auf Narian auszuüben. Vorher dürfte sie in seinem Kerker gewesen sein. Darüber hinaus will ich keine Spekulationen anstellen.«
Ich rang nach Atem, weil meine Lungen sich einfach nicht ausreichend weiten wollten.
»Sie wird sich erholen, mit der Zeit«, versprach er und war dabei der einzige Mensch, dem ich bereit war, das zu glauben.
Die beiden Männer sprachen weiter, während ich in den Unterschlupf zurückkehrte, um nach meiner Schwester zu sehen. Es dauerte nicht lange, bis auch London kam und sich seinen Reisesack holte. Cannan gesellte sich zu mir.
»Wenn Steldor zu sich kommt, muss er essen. Weckt dann einfach Galen. Ich werde draußen Wache halten.«
Der Hauptmann sagte das in ganz normalem Ton, doch seine Augen flogen immer wieder zu seinem bewegungslos daliegenden Sohn. Ich wusste, dass er mindestens so müde sein musste, wie der Haushofmeister, der kaum noch auf seinen Beinen hatte stehen können, und ich fragte mich, was ihn wohl aufrecht hielt.
Doch ich nickte nur zustimmend, und Cannan und London gingen gemeinsam hinaus. London nahm seine Dolche, seinen Jagdbogen und Köcher mit. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriffen hatte, dass, da nun alle Männer entweder abwesend, beschäftigt oder außer Gefecht gesetzt waren, ich für den Moment die Verantwortung übernehmen musste.
Das tat ich gern, weil ich mich so zumindest nützlich machen konnte. Bislang war ich außer für die Haushaltsführung des Palastes noch nie für etwas verantwortlich gewesen und machte somit soeben eine ganz neue Erfahrung. Ich fühlte mich stark.
Das Brennholz war noch an der Wand gestapelt, aber fast alles andere war durcheinandergeworfen. Also räumte ich als Erstes die medizinischen Hilfsmittel weg, die wir zu Steldors rascher Versorgung gebraucht hatten. Ich hob auch das auf, was London nach dem Reinigen der Wunde auf den Boden geworfen hatte. Dann wickelte ich Bandagen wieder auf, korkte Flaschen zu und zog den Faden aus der Nadel, mit der London Steldor genäht hatte. Nachdem ich all diese Dinge aufgeräumt hatte, hob ich die blutigen Kleidungsstücke auf und warf sie ins Feuer. Ich wusste nicht, ob man die Umhänge waschen konnte, also legte ich sie erst einmal beiseite. Die Tierhäute waren ebenfalls blutbefleckt, konnten aber vielleicht auch gereinigt werden, also packte ich sie zu den Umhängen. Bei der Arbeit plauderte ich mit meiner Schwester und erzählte ihr einfach, was ich gerade tat. Ich hoffte, sie würde sich irgendwann vielleicht am Gespräch beteiligen.
»Hast du
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