Alera 02 - Zeit der Rache
auszutrinken. Dann gab er ihn mir zurück, damit ich ihn in dem Eimer erneut füllte. Nachdem er mir aufgetragen hatte, etwas Trockenobst, Grütze und einen Lappen zu bringen, half er Steldor erneut beim Trinken. Als ich alles gebracht hatte, tauchte er das Tuch in den Eimer und wischte seinem Sohn damit über Gesicht und Hals. Nachdem er Steldor in seiner Position stabilisiert hatte, nötigte er ihn, etwas zu essen und war dabei erfolgreicher als ich zuvor. Als er mit der verzehrten Menge zufrieden war, half der Hauptmann Steldor, sich wieder auf den Fellen auszustrecken, damit er weiterschlafen konnte.
»Denkt Ihr, er ist auf dem Wege der Besserung?«, fragte ich ängstlich und war mir nicht sicher, ob Cannan jetzt, wo Steldor ihn nicht hörte, offen zu mir wäre.
»Er ist schneller abgekühlt, als es der Fall gewesen wäre, hätte er Fieber gehabt«, erwiderte der Hauptmann und befühlte gleich noch einmal Steldors Stirn. Ich wandte den Blick ab, als er sein Hemd hinaufschob, um den Verband zu prüfen und nach der Wunde zu sehen. »Die Wunde selbst ist leicht gerötet, aber das ist noch kein Grund zur Sorge.«
Ich sagte nichts dazu, dass er das Wort »noch« verwendet hatte. Er schob die Verbände und das Hemd seines Sohnes wieder zurecht. Dann deutete er mit dem Kopf zu meiner Schwester, die auf ihrem Lager saß und bewegungslos ins Leere starrte.
»Und wie geht es ihr?«
»Sie ist … anders. Verändert.«
»Dann ist sie auf Euch angewiesen?«
Ich gab ein Geräusch von mir, das Zustimmung signalisierte, und war gleichzeitig von seiner irgendwie seltsamen Frage irritiert.
»Ich überlege nur gerade, wer im Notfall ohne Hilfe durchkäme«, erklärte er, als hätte er meine Gedanken gelesen, und meine Haut begann unangenehm zu kribbeln.
»Rechnet Ihr mit einem Notfall?«
»Ja. Ständig. Denn das ist die einzige Möglichkeit, darauf vorbereitet zu sein. Ich glaube allerdings nicht, dass man uns hier aufspüren wird.«
Bevor ich darauf antworten konnte, erhob er sich und kehrte zu dem Lager zurück, das er sich bereitet hatte.
»Steldor dürfte noch eine Weile schlafen. Ich werde versuchen, das Gleiche zu tun.« Er sah mich einen Moment lang an, und dann zeigte sich ein vollkommen unübliches Lächeln auf seinem Gesicht. »Und Alera, kurze Haare sind durchaus nicht immer ein Zeichen der Schande.«
24. FÜR HYTANICA STERBEN
Als London Stunden später zurückkehrte, war er nicht allein. Galen hatte seinen Wachposten verlassen, um das Fleisch – ein Reh – in die Höhle zu bringen, doch als mein ehemaliger Leibwächter durch den Spalt im Fels trat, folgte ihm der junge Lord Temerson. Er wirkte erschöpft und sah schmutzig aus, und an seinem Körper hing seine Kleidung in Fetzen, darüber, halb verrutscht, trug er einen dunklen Umhang.
»Ich habe ihn weit weg durch den Wald irrend gefunden«, ließ London uns wissen und zog ihn weiter in unseren Unterschlupf. »Aber er ist nicht mehr ganz da«, fügte der Gardist hinzu und machte eine vage, aber bezeichnende Geste vor seinem eigenen Kopf.
Tatsächlich schien Temerson so benommen wie Miranna, doch als sein Blick auf sie fiel, änderte sich seine Miene. Unerwartet riss er sich von London los und stolperte auf mich und meine Schwester zu, die aufgestanden war und ein paar Schritte in seine Richtung machte.
»Mira«, murmelte er, als er unmittelbar vor ihr stand. Ich wunderte mich, dass er den Kosenamen benutzte, den ich ihr immer gab. Er senkte den Kopf und sein zimtbrauner Pony fiel ihm ins Gesicht. Miranna streckte die Hand aus und strich ihm die Haare zurück. Dabei begegneten sich ihre Blicke. Er schien kurz davor, in Tränen auszubrechen, und ich versuchte nicht einmal, mir vorzustellen, was er durchgemacht haben mochte, bevor London auf ihn gestoßen war.
Die Männer waren jetzt über die ganze Höhle verteilt – London in der Mitte, Galen bei den Essensvorräten und der Hauptmann, der wohl aufgewacht war, als die anderen eintrafen, stand neben seinem Schlaflager. Sie alle starrten den Neuankömmling an und versuchten offenbar, sich seine Anwesenheit zu erklären. Nur Steldor schlief, und zwar sichtlich ruhiger, jetzt, wo er nicht mehr so fest zugedeckt war. Ich vermutete, Cannan würde nun nicht mehr versuchen, ihn an eine andere Stelle zu rücken.
Miranna und Temerson blieben, wo sie waren, sprachen jedoch kein Wort. Sie berührte nur sein Haar, und er schaute in ihre Augen. Ich fühlte mich unwohl dabei, ihnen so zuzusehen, aber unter unseren
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